Dankbarkeit und Einsamkeit

Dankbarkeit und Einsamkeit

Dankbarkeit und Einsamkeit – Gedanken und Gefühle nicht nur zur Weihnachtszeit

Es gibt – inzwischen – vieles in meinem Leben, wofür ich dankbar bin. Dass ich ein Dach über dem Kopf habe, genug zu essen, dass ich die unfassbare Freiheit habe, auf die Art und Weise zu arbeiten, wie es mir entspricht und woran es mir entspricht, vor allem aber, dass es Menschen in meinem Leben gibt, die mich lieben und mich nehmen, wie ich bin. All das erfüllt mich mit Freude.
Manchmal aber verliere ich den Kontakt zu meinem Gefühl der Freude. Dann bricht sich in mir etwas Bahn, das tief in meinem Inneren lebt, dort, wo es dunkelschwarz ist, voller Schmerz und Endlosigkeit. Etwas, das immer mit dabei ist, und umso mehr sich Bahn bricht, je weniger ich es dabei haben will.

Einsamkeit.

Diese Einsamkeit hat nichts damit zu tun, ob ich gerade allein bin, oder viele Menschen um mich herum sind. Sie hat auch nichts damit zu tun, ob es Menschen in nah und fern gibt, die mir zugewandt sind oder mich sogar lieben. Ich vermute, dass einen Teil dieser Einsamkeit die frühkindliche Erfahrung des Verlassen-Seins ausmacht. Ich ahne, dass selbst ohne diese Erfahrung das Einsam-Sein zum Mensch-Sein dazu gehört. Und ich glaube, dass Einsamkeit etwas ist, das ich als Mensch nicht vollständig überwinden kann.
Wir können uns zwar miteinander verbinden, etwa darüber, dass wir Erfahrungen miteinander teilen. So wie ich es hier gerade tue, indem ich diesen Text schreibe. Wir können zum Beispiel die Erfahrung miteinander teilen, wie eine Ananas schmeckt. Und dennoch: selbst da bleibt etwas, was ich nicht teilen kann. So sehr ich mich bemühe, es dir zu beschreiben: Du wirst niemals erleben, wie MIR eine Ananas schmeckt. Mit dieser Erfahrung bleibe ich einsam. Ich könnte es auch so schreiben: „ein-sam“. So, wie Zwei-samkeit Momente beschreibt, die wir gemeinsam – nur zu zweit – miteinander erleben, nur uns beiden gehören, sind Momente der Ein-samkeit Momente, die nur mir allein gehören. Die auch kostbar sein können.

Aber kehren wir zurück

zu diesem Teil von Einsamkeit, der an die Erfahrung des Verlassen-Seins anknüpft. Denn ich weiß, dass es in meinem Leben Momente im Jahresverlauf gibt, die massiv dazu beitragen können, dass dieser Teil von Einsamkeit sich Bahn bricht, dorthin, wo es dunkelschwarz ist, voller Schmerz und Endlosigkeit. Weihnachten ist so ein Moment, wo das passieren kann. Ebenso regelmäßig wiederkehrende Rituale wie zum Beispiel das Feiern meines Geburtstags, usw. Kurz: Momente, in denen von mir erwartet wird, dass ich mich auf eine bestimmte Weise fühlen sollte. „Dankbar fühlen“, zum Beispiel, „fröhlich fühlen“, zum Beispiel.

„Lasst uns froh und munter sein!“

– manchmal passt es. Dann ist alles gut. Dann fühle ich mich dabei, verbunden mit Euch und in Gemeinschaft.
Manchmal aber bin ich nicht froh, nicht munter. Manchmal bin ich erschöpft, nachdenklich, still, bewegt, berührt. So wie in diesem Jahr, nachdem ich 16 Frauen interviewt habe und seit einem halben Jahr täglich an den Abschriften arbeite.
Und plötzlich stand Weihnachten vor der Tür.
Ich bin Familienvater. Ich bin in unserer Familie hauptsächlich derjenige, der kocht, nicht nur, aber eben auch zur Weihnachtszeit. Es war verabredet, was wir an welchem Tag essen wollen, und dass wir etwas gemeinsam machen. Spazieren gehen, Spiele spielen, all so etwas. Wie dankbar darf ich sein, Familie zu haben, das „Fest der Liebe“ nicht allein erleben zu müssen! Gerade zu Corona-Zeiten!

Und dennoch: Ich war dieses Jahr nicht froh und munter.

Und es ist zum großen Teil ein Druck, den ich mir selber gemacht habe, etwa, wenn mir liebe Menschen Weihnachtsgrüße schicken. Per WhatsApp, E-Mail oder sogar – ganz altmodisch, per Post. Dann ist der Gedanke da: „Du hast es vermasselt. Du hast keine Glückseligkeit verbreitet! Du hast es versäumt, frohe Weihnachten zu wünschen. Deinen Freunden nicht, Deinen Geschäftspartnern nicht.“ usw.
Das ist der Moment, wo ich mich selbst verlasse.
Denn jetzt, nachdem der „Spuk“ vorbei ist, und ich diesen Text schreibe, ist mir klar, dass auch ich selbst diesen Teil von Einsamkeit wachrufe. Diesen Teil, der an der Erfahrung des Verlassen-Seins anknüpft, dort, wo es dunkelschwarz ist, voller Schmerz und Endlosigkeit.
Ich rufe diesen Teil von Einsamkeit durch Verlassen-Sein in mir wach, solange ich der Vorstellung folge, dass Rituale auf eine bestimmte Art und Weise gefeiert werden müssten, und bestimmte Gefühle hervorrufen müssten. „Lasst uns froh und munter sein.“

Mir wird klar, dass ich selbst es bin,

der das Gefühl des Verlassen-Seins ins mir wachruft, wenn ich mich dazu auffordere, so zu fühlen, wie ich im Moment aber nicht fühle.Nein, das muss ich nicht! Ich muss nicht „froh und munter“ sein, wenn ich erschöpft, nachdenklich, still, bewegt, berührt bin. So wie in diesem Jahr.
Dann kann ich für mich Wege suchen und finden, Weihnachten auf meine Weise zu feiern. Dann darf ich Schmerzen, Trauer, Nachdenklichkeit spüren, darf einfach still dabei sein, und mir – in mir und für mich  – Raum geben, dass die Gefühle da sein dürfen. Das geht auch, ohne die Menschen um mich herum in Mitleiden-schaft zu ziehen. Indem ich zum Beispiel sage: „Ich bin gern mit Euch zusammen. Nur ist es in mir gerade nicht „froh und munter“, und ich würde mich freuen, wenn ich gerade einfach so sein darf, wie ich bin, während ich mit euch zusammen bin.“
Das für mich Spannende ist:

Dadurch bin ICH dann bei MIR.

Ich verlasse mich selbst nicht mehr, weil ich mich annehme mit dem, wie ich bin und mit dem, was ich gerade fühle.
So kann dieser Teil von Einsamkeit in mir, der an die Erfahrung von Verlassenheit anknüpft, endlich Frieden finden. Und ja: Jetzt klappt es auch mit der Dankbarkeit. Ich bin dankbar, dass ich mir erlauben kann, zu fühlen wie ich fühle, und die Verantwortung dafür bei mir halten kann. Dann habe ich mich bei mir.

Und ich bin dankbar, Menschen um mich herum zu haben, die mich so nehmen, wie ich bin. Sehr dankbar.
Danke, dass es Euch gibt!

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

2020-12-29T09:05:14+00:004 Kommentare

Räume bewusst gestalten

Räume bewusst gestalten

Die Corona-Krise fordert uns alle

auf eine für viele Menschen neue Weise heraus.

Das gilt besonders auch für Paare. In Zeiten von Homeoffice und Ausgangsbeschränkungen wird nun noch wichtiger, was von jeher für unsere Praxis Beziehungsperspektive Leitgedanke ist:

„Stabile, erfüllende Paarbeziehungen setzen eine gute Beziehung zu sich selbst voraus.“

Den eigenen Raum wahrnehmen und würdigen zu lernen, ist nicht nur dafür wichtig, um sich abgrenzen zu können, sondern ganz besonders auch, um bewußte gemeinsame Räume der Begegnung miteinander gestalten zu können.
Das gilt umso mehr derzeit, wo wir wegen Corona und der Ausgangsbeschränkungen „aufeinander hocken“.
Vielleicht ist aber auch gerade jetzt die Chance gut, mit- und aneinander zu wachsen!

Es mag sein, dass viele Paare sich im Moment, oder sowieso schon länger, so aneinander gebunden fühlen wie die beiden Tassen oben im Bild. Sich bewusst zu machen, dass Sie – auch, wenn Sie sich gebunden haben – ganz und eigenständig sind, so wie jede der beiden Tassen im Bild, gibt Ihnen die Möglichkeit, sowohl Freiräume für den Einzelnen als auch gemeinsame Räume des Miteinanders zu gestalten.
Die Corona-Krise ist eine Herausforderung, aber auch eine Chance, dies für sich und miteinander zu lernen.

Wir haben uns in unserer Praxis dazu ein paar Gedanken gemacht, die wir Ihnen hier gern als unterstützende Anregungen anbieten.

Das Wichtigste zuerst:
Machen Sie sich klar, dass es überall, wo Menschen zusammenleben, sowohl Raum für jede und jeden Einzelnen braucht, als auch so etwas wie Räume des gemeinsamen Erlebens.

Ohne Grenzen kein Raum.

Völlig klar: schon unser Körper definiert sich über seine Grenzen. Unsere Haut bildet ganz natürlich eine Begrenzung unseres Körpers. Ohne Begrenzung würden wir unsere Gestalt und unser Gefühl für uns selbst verlieren. Wenn wir z.B. in einem Auto sitzen, sind wir darüber hinaus sogar in der Lage, „unseren Raum“ bis zu den Grenzen der Autokarosserie auszuweiten.
Und wir reagieren verständlicherweise empfindlich, wenn jemand die Grenzen gegen unseren Willen übertritt, etwa, wenn uns jemand in den Kofferraum fährt, oder auch nur beim Spurwechsel zu nahe kommt. Gleichwohl freuen wir uns vielleicht auch, wenn wir nicht alleine Auto fahren, sondern einen freundlichen Menschen zur Mitfahrt in unseren Raum einladen können.

An diesem Beispiel wird klar:

Es braucht Grenzen

Sie sind ein ganz eigener Mensch. Ein Mensch mit eigenen Grenzen, aus denen heraus Sie Ihren eigenen Raum gestalten, den sie für sich alleine haben, aber in den Sie auch andere Menschen einladen können, wenn Sie möchten. Und erst das Bewusstsein für Ihren eigenen Raum macht es möglich, zu unterscheiden zwischen

„Dies hier ist mein eigener Raum“

und
„Das ist unser gemeinsamer Raum.“

Diese Unterscheidung ist wichtig!
Denn ohne ein klares Gefühl für den eigenen Raum lassen sich auch willkommene gemeinsame Räume nicht gestalten!
Um beim Autovergleich zu bleiben:
Dann spüren wir nicht mehr klar, ob mein Gegenüber gerade unwillkommen in meinem Kofferraum ist oder freundlich eingeladen als mein Mitfahrer auf dem Sitz neben mir in meinem Raum ist.

Räume gestalten

Wenn wir bezogen auf Beziehungen von Räumen sprechen, so meinen wir damit:

  • innere Räume, also sinnbildliche Räume, z.B. sind Sie ein eigener individueller Mensch mit ganz eigenen Gedanken, Bedürfnissen und Wegen, diesen zu folgen.
  • äußere Räume, also die reale Umgebung: z.B. die Zimmer der gemeinsamen Wohnung, oder auch nur ein Bereich innerhalb eines Zimmers, z.B. ein Arbeitsplatz, ein Lesesessel, …und auch
  • Zeiträume, innerhalb dessen innere und äußere – eigene und gemeinsame -Räume gestaltet werden.

Fangen Sie also am Besten damit an, sich Ihren eigenen Raum bewusst zu machen.

Gestaltung des inneren Raums

Nehmen Sie sich hierfür doch einmal ein Stündchen Zeit für sich.
Legen Sie sich einen Stift und ein Blatt Papier zur Hand und schreiben auf, was Ihnen dazu einfällt: Wenn Sie auf Ihre eigenen Bedürfnisse blicken, auf das, was Sie gerne tun, was Ihnen wichtig ist, was sie allein tuen wollen oder auch müssen, und worüber sie sich freuen, es in Gemeinschaft zu machen.
Solch eine Liste kann dann z.B. so aussehen:

  • Arbeiten (muss ja schließlich sein)
    ein Buch lesen
  • Yoga
  • essen
  • schlafen
  • einfach chillen und niemanden sehen und hören
  • mich abreagieren, wenn ich wütend bin
  • spazieren gehen (zu zweit)
  • joggen (allein)
  • Duschen, Baden
  • Sex haben (mit mir allein)
  • Sex haben (gemeinsam)
  • heimwerken
  • Musik machen
  • mit Freunden telefonieren
  • Social Media
  • am PC gamen

Was auch immer Ihren persönlichen Bedürfnissen und Wichtigkeiten entspricht: schreiben Sie es auf.
Sie sehen schon: wenn man einmal bewusst darüber nachdenkt, ergibt sich fast von selbst, wo sie gern Zeit und Raum für sich alleine haben möchten, und wo Sie sich über gemeinsame Zeit und gemeinsamen Raum freuen.

Nun haben Sie schon eine gute Grundlage für die

Gestaltung des äußeren Raumes:

Zeichnen Sie doch einmal den Grundriss der gemeinsamen Wohnung auf.
Was erleben Sie in den verschiedenen Bereichen Ihrer Wohnung?
Nehmen sie verschiedenfarbige Stifte zu Hand und tragen in die Grundrisszeichnung ein:
Wo in der Wohnung ist für Sie „mein“ Bereich? Die Ecke, das Zimmer, wo Sie sagen können: „Ja, hier fühle ich mich wohl und sicher.“ Oder auch: „Hier kann ich zur Ruhe kommen.“ Oder auch: „Hier mag ich es, wenn wir uns begegnen.“ Oder: „Hier komme ich richtig in Aktion.“ Was auch immer Ihren Bedürfnissen nach eigenem Raum entspricht.
Möglicherweise gibt es eine Ecke, ein Bereich oder ein Zimmer, wo sie gerne sagen:
„Hier funkt mir keiner rein! Hier darf nur ich verändern und gestalten.“ Oder ist Ihnen das vielleicht gar nicht so wichtig? Spüren sie da ruhig einmal hin, wie es wirklich ist!

Je nachdem, ob sie über eine große Wohnung, ein großes Haus mit vielen Zimmern verfügen, oder ob Sie sich eine kleine Einzimmerwohnung teilen, können nun ganze Zimmer, vielleicht aber auch einfach ein Bord eines Regals und Ihr Lieblingsstuhl „Ihr Raum“ sein, in dem Sie bestimmte Dinge gern erleben oder tuen.

In der Krise, aber auch sonst im Alltag:

Gestalten Sie sich Zeiträume, um miteinander zu sprechen,

und zwar über wesen-tliches: Über das, was Ihren inneren Raum ausmacht. Ihre Bedürfnisse, Wünsche, Visionen, Ängste.
Vielleicht lösen sich darüber ja sogar langjährige Missverständnisse auf.
(Denken Sie nur an die obere Brötchenhälfte, die wir so oft dem Partner überlassen, weil wir denken, er oder sie möge diese lieber als die untere Brötchenhälfte!)

Tauschen Sie sich mit Ihrem Partner über Ihre jeweiligen Raumbedürfnisse aus. Vielleicht gibt es Überschneidungen oder Raumkonflikte? Wie lassen sich diese lösen?
Welche Ideen lassen sich entwickeln? Vielleicht lässt sich z.B. die Nutzung des Regals im Wohnzimmer anders aufteilen? Und vielleicht lassen sich Zeiträume vereinbaren, in denen derselbe Bereich einmal „mein“ Raum und einmal „dein“ Raum ist?
Wie andere Räume auch, haben Zeiträume eine Begrenzung, einen Anfang und ein Ende.

Vielleicht kann Sie dies dabei unterstützen, gut durch die Corona-Krise und die viele Zeit zuhause zu bringen.

Sorgen Sie gut für sich,

indem Sie sich selbst die Freiheit verschaffen, Ihren eigenen Raum zu gestalten.
Dadurch kann es auch im partnerschaftlichen Miteinander leichter fallen,
auch dem Anderen diese Freiheit einzuräumen.
Und gleichzeitig wissen Sie vielleicht besser, was Sie gerne bewusst gemeinsam miteinander erleben wollen.

Und das ist nicht nur in Zeiten von Corona wichtig.
Aber warum sollten Sie diese besondere Zeit nicht auch dafür verwenden, sich das für die Partnerschaft bewusst zu machen?


Für Sie da

Wir sind zur Zeit via Skype und telefonisch gern für Sie da, wenn wir Sie unterstützen können, die Krise möglichst gut für sich und ihre Partnerschaft zu nutzen.
Für Termine erreichen Sie uns wie gewohnt per E-mail über kontakt@beziehungsperspektive.de
oder per Telefon 030 / 757 08 434 .

Kommen Sie gut durch die nächsten Wochen und vor allem:  Bleiben Sie gesund!

Ihre Praxis Beziehungsperspektive

Judika und Eilert Bartels

2020-03-29T14:00:18+00:000 Kommentare

Erfüllende Sexualität – Raus aus dem Druck!

Erfüllende Sexualität – Raus aus dem Druck
Wenn ein Milchkaffee erfüllende Sexualität sein kann


Foto: ulleo / Pixabay

Eine erfüllende Sexualität

Wer wünscht sich das nicht? „Eine erfüllende Sexualität ist es, wenn zwei Menschen danach erschöpft, glücklich und zufrieden in ihre Kissen sinken.“ meldete sich spontan eine Frau mit leuchtenden Augen, als meine Partnerin und ich in einem Gesprächskreis zum Thema „Meine Sexualität“ danach fragten, was eine „erfüllende“ Sexualität eigentlich sei. Dann hielt sie einen Moment inne und das Leuchten in ihren Augen verlosch, ehe sie zögerlich sprach: „Aber dahin zu kommen, das ist die große Schwierigkeit.“ Es scheint also, als müssten wir erst mal Anstrengungen auf uns nehmen, um schließlich zum Ziel zu kommen.

Was eine erfüllende Sexualität sei,

und welche Bedingungen dafür erfüllt werden müssen, das vermitteln uns auch Illustrierte, Film und Fernsehen. Filmpaare mit perfekten Körpern setzen uns Bilder in den Kopf. Zeitschriften und Magazine legen nach: „7 Tricks, wie du sie ins Bett kriegst.“ „10 Tipps, wie er dich sexy findet“, usw. Wir alle sind bis zum Rand vollgestopft mit unzähligen Botschaften über unsere Sexualität, unsere Lust und unsere Körper. Wir haben Vorstellungen und Bilder verinnerlicht, wie unser Sex sein sollte, oder auch darüber, wie es doch tatsächlich sei. „Er muss es ihr besorgen können.“, „Sie braucht ein langes Vorspiel.“, „Männer wollen nur das Eine.“, „Sie muss sexy sein.“, „Die erogenen Zonen der Frau sind nicht leicht zu finden.“ „In langen Partnerschaften schwindet auf Dauer die Lust aufeinander.“ und so weiter. Das Problem ist: Bei so vielen Botschaften und Bildern schwindet auch die Lust auf Sex. Eine „erfüllende“ Sexualität scheint nicht so einfach zu sein.

Wie eine Aufgabe,

die es – nun ja – eben zu erfüllen gilt. Oder zumindest wie ein lang gehegter Wunsch nach etwas, vor dessen Erfüllung erst bestimmte Bedingungen erreicht werden müssen. Wer jemals als Kind sein Taschengeld über viele Monate gespart hat, um sich einen großen Wunsch zu erfüllen, wer jemals eine Woche brav sein musste, damit man am Wochenende mit ins Kino durfte, kennt das. Es ist das Gefühl, Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen und Bedingungen „erfüllen“ zu müssen, um ein Ziel zu erreichen. Und genau das ist es, was einer „erfüllenden“ Sexualität dann im Wege steht: Wie will ich erschöpft, glücklich und zufrieden in mein Kissen sinken, wenn mir nicht bereits das, was davor passiert, Freude und Erfüllung bereitet?

Es lohnt sich also,

sich aus der Vorstellung, etwas erfüllen zu müssen, zu verabschieden. Worum geht es uns eigentlich, wenn wir miteinander Sex haben wollen? In unserer Praxis fragen wir die Menschen gelegentlich danach: „Was ist es, was eine gemeinsam gelebte Sexualität für dich wertvoll macht?“ Eine junge Frau hat das neulich wunderbar zusammengefasst: „Vom Alltag abschalten zu dürfen und endlich nicht mehr funktionieren zu müssen. So sein zu dürfen, wie ich bin und mich dabei angenommen und geborgen zu fühlen – mich gesehen zu fühlen.“
Das befriedigt elementare Grundbedürfnisse des Menschen. Mit dem Erfüllen von Rollen ist das nicht vereinbar. Da kann ich noch so sehr versuchen, die Rolle des tollen Lovers oder der sinnlichen Geliebten zu erfüllen: Wenn ich das jetzt, in diesem Moment nicht bin und nicht fühle, kann ich mich auch nicht gesehen und angenommen fühlen. Wenn wir einander wirklich sehen wollen, dann geht das nur, wenn wir alle Rollen ablegen.

Es ist möglich,

verinnerlichte Botschaften und Rollen zu erkennen, sie anzuschauen und zu hinterfragen: „Stimmt das für mich? Bin ich das wirklich? Fühlen sich diese Botschaften und Rollen gut an? Oder geht es mir nicht gut damit? Empfinde ich dabei Druck? Oder Angst, oder Trauer? Welche Glaubenssätze haben sich in mir daraus entwickelt? Muss ich wirklich immer einen Orgasmus haben? Muss ich immer einen hoch kriegen? Bin nur etwas wert, wenn ich es ihr besorgen kann? Muss ich ihm das Gefühl geben, dass er es „drauf hat“, damit er mich liebt?“ Im Grunde können wir nahezu alles, was wir an Botschaften über Sexualität verinnerlicht haben, und was in uns zu belastenden Glaubenssätzen führt, über Bord werfen. 97 Prozent dessen, was wir über Sexualität vermittelt bekommen, hat möglicherweise nichts damit zu tun, was die eigene Sexualität ausmacht. Es lohnt sich deshalb, neugierig zu sein, und immer wieder zu hinterfragen: Passt das für mich? Trifft es auf mich wirklich zu? Fühle ich mich gut mit dieser Botschaft?

Ein Beispiel:

Zu den Botschaften über die angeblich unterschiedlichen Erregungskurven von Mann und Frau habe ich vor ein paar Jahren Umfragen gemacht. Ergebnis: 92 % aller Teilnehmenden gaben an, dass ihre Erregungskurve je nach Situation stark variiert. Die angeblichen Unterschiede zwischen Mann und Frau lösten sich dadurch völlig auf. Mit dieser Botschaft verknüpfte Glaubenssätze, die uns belasten und in Rollen zwängen, können wir also getrost loslassen. So werden wir offener dafür, zu schauen und zu fühlen. Wir sind aufmerksamer für uns selbst und unsere Partner.

Was uns dabei hilft…

ist konsequent dem zu folgen, was wir gerade fühlen und uns in Achtsamkeit für uns selbst und unser Gegenüber damit zu zeigen, was gerade ist. Den Kopf auszuschalten – auch eine oft gehörte Botschaft(!) – ist dafür übrigens nicht nötig. Der darf ruhig dabei sein. Und wenn mitten im schönsten Vorspiel ein Gefühl – Trauer, Sorgen, was auch immer – quer schießt, ist das völlig in Ordnung. Das Gefühl wird dann ausgesprochen und kann wieder gehen. Oder es ist gerade wichtig, und dann ist es richtig, dass es Raum bekommt. So machen wir die Erfahrung, dass wir mit dem, wie wir sind, angenommen und gesehen werden.
Meine Partnerin und ich haben uns bewusst Zeiträume organisiert, in denen wir einfach mit dem, was sich gerade zeigt, gemeinsam verbunden sind. „Erfüllende“ Sexualität ergibt sich von ganz alleine, indem wir eine „erfühlende“ Sexualität leben. Eine Sexualität, die entspannt genau dem folgt, wonach wir uns gerade fühlen. Und das ist manchmal wildes geiles sich durch die Decken wühlen. Manchmal haben wir aber auch gerade gar keine Lust auf viel Körperlichkeit: „Wollen wir in ein Café fahren und Milchkaffee trinken?“ Und dann lassen wir uns im Café zufrieden und glücklich in die Lehnen unserer Stühle sinken, schauen uns an, und wissen: Erfühlende Sexualität kann alles sein. Auch ein gemeinsamer Milchkaffee. Und beim nächsten Mal gibt´s wieder durchwühlte Decken. Oder ein Rollenspiel. Je nach dem, was sich gerade zeigt. Zu leben was unsere Bedürfnisse in gerade diesem Moment erfüllt: das ist erfüllend.

Artikel erstmals erschienen in: KGS Berlin, Ausgabe 10/2018
für diesen Blog überarbeitet am 09.08. 2019

2019-08-09T19:08:03+00:000 Kommentare

Es ist soweit: Mein Blog ist online

Es ist soweit: Mein Blog ist online

Es gibt Dinge, die brauchen ihre Zeit, um heranzuwachsen. Und manchmal sind auf einmal alle Früchte zur gleichen Zeit reif. Dann offenbart sich eine Fülle, dass man fast nicht weiß, zu welcher Frucht man als erstes greifen möchte. So fühle ich mich heute. Stolz und glücklich über das, woran ich solange gearbeitet habe:

– Meine neue Webseite, an der ich mehr als ein Jahr lang gefeilt habe, ist seit wenigen Tagen online,
– das Buch humANNoid – Männer sind Menschen, das genau heute an diesem Tag gedruckt wird und rechtzeitig zur Buchmesse in Leipzig auf den Markt kommt,
– und natürlich mein Blog: Eilerts Gedankenspielraum, auf den ich schon lange gewartet habe und für den ich nun diesen ersten Blogartikel verfasse.

Hier schreibe ich über Sexualität, Gesellschaft, Geschlechterrollen, Beziehung, Partnerschaft.

Hier hinterfrage ich Glaubenssätze, die wir als Menschen darüber verinnerlicht haben. Botschaften, die uns oft mehr im Wege stehen, als dass sie uns nützen.

Bereits in den letzten fünf Jahren habe ich viele Texte geschrieben und einige davon auf Facebook veröffentlicht. Immer wieder haben mich Menschen dazu ermuntert, diese Texte in einem Blog zu sammeln. Dem folge ich nun sehr gern. Ich werde hier einige der Texte der letzten Jahre – jeweils mit einem Vermerk zum Entstehnungsdatum – nach und nach veröffentlichen.

Darüber hinaus geht natürlich auch meine eigene Entwicklung weiter. Deshalb werde weiterhin über aktuelle oder auch immerwährende Themen schreiben. Themen, die mich beschäftigen und die ein Hinterfragen lohnen. Ich möchte dazu einladen, aus gewohnten Denkräumen hinauszutreten und neue Handlungspielräume zu erkunden.
Ich werde weiterhin verfestigte Botschaften und Glaubenssätze über Geschlechter und Sexualität hinterfragen.
Und wo es geht und ich Ideen dazu habe, werde ich Anregungen zur Auflösung anbieten. Oder auch nur Fragen zum Weiterdenken.

Damit wir gemeinsam auf eine Welt Ausblick nehmen können,

in der jede und jeder von uns die eigenen Beziehungen, die eigene Sexualität und die Rollen, die ein Mensch ausfüllen mag, so selbstbestimmt wie möglich gestalten kann.
Konstruktive Kommentare, die den Dialog befruchten, sind mir dabei willkommen!
Ich freue mich auf weiteres Wachstum und viele Früchte, die wir in gemeinsamen Gedankenspielräumen noch heranreifen lassen können.
Für eine Welt, in der wir so frei wie möglich und in Frieden leben können.

Von Herzen grüßt Eilert Bartels

2019-04-15T13:05:20+00:000 Kommentare