Erfüllende Sexualität – Raus aus dem Druck!

Erfüllende Sexualität – Raus aus dem Druck
Wenn ein Milchkaffee erfüllende Sexualität sein kann


Foto: ulleo / Pixabay

Eine erfüllende Sexualität

Wer wünscht sich das nicht? „Eine erfüllende Sexualität ist es, wenn zwei Menschen danach erschöpft, glücklich und zufrieden in ihre Kissen sinken.“ meldete sich spontan eine Frau mit leuchtenden Augen, als meine Partnerin und ich in einem Gesprächskreis zum Thema „Meine Sexualität“ danach fragten, was eine „erfüllende“ Sexualität eigentlich sei. Dann hielt sie einen Moment inne und das Leuchten in ihren Augen verlosch, ehe sie zögerlich sprach: „Aber dahin zu kommen, das ist die große Schwierigkeit.“ Es scheint also, als müssten wir erst mal Anstrengungen auf uns nehmen, um schließlich zum Ziel zu kommen.

Was eine erfüllende Sexualität sei,

und welche Bedingungen dafür erfüllt werden müssen, das vermitteln uns auch Illustrierte, Film und Fernsehen. Filmpaare mit perfekten Körpern setzen uns Bilder in den Kopf. Zeitschriften und Magazine legen nach: „7 Tricks, wie du sie ins Bett kriegst.“ „10 Tipps, wie er dich sexy findet“, usw. Wir alle sind bis zum Rand vollgestopft mit unzähligen Botschaften über unsere Sexualität, unsere Lust und unsere Körper. Wir haben Vorstellungen und Bilder verinnerlicht, wie unser Sex sein sollte, oder auch darüber, wie es doch tatsächlich sei. „Er muss es ihr besorgen können.“, „Sie braucht ein langes Vorspiel.“, „Männer wollen nur das Eine.“, „Sie muss sexy sein.“, „Die erogenen Zonen der Frau sind nicht leicht zu finden.“ „In langen Partnerschaften schwindet auf Dauer die Lust aufeinander.“ und so weiter. Das Problem ist: Bei so vielen Botschaften und Bildern schwindet auch die Lust auf Sex. Eine „erfüllende“ Sexualität scheint nicht so einfach zu sein.

Wie eine Aufgabe,

die es – nun ja – eben zu erfüllen gilt. Oder zumindest wie ein lang gehegter Wunsch nach etwas, vor dessen Erfüllung erst bestimmte Bedingungen erreicht werden müssen. Wer jemals als Kind sein Taschengeld über viele Monate gespart hat, um sich einen großen Wunsch zu erfüllen, wer jemals eine Woche brav sein musste, damit man am Wochenende mit ins Kino durfte, kennt das. Es ist das Gefühl, Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen und Bedingungen „erfüllen“ zu müssen, um ein Ziel zu erreichen. Und genau das ist es, was einer „erfüllenden“ Sexualität dann im Wege steht: Wie will ich erschöpft, glücklich und zufrieden in mein Kissen sinken, wenn mir nicht bereits das, was davor passiert, Freude und Erfüllung bereitet?

Es lohnt sich also,

sich aus der Vorstellung, etwas erfüllen zu müssen, zu verabschieden. Worum geht es uns eigentlich, wenn wir miteinander Sex haben wollen? In unserer Praxis fragen wir die Menschen gelegentlich danach: „Was ist es, was eine gemeinsam gelebte Sexualität für dich wertvoll macht?“ Eine junge Frau hat das neulich wunderbar zusammengefasst: „Vom Alltag abschalten zu dürfen und endlich nicht mehr funktionieren zu müssen. So sein zu dürfen, wie ich bin und mich dabei angenommen und geborgen zu fühlen – mich gesehen zu fühlen.“
Das befriedigt elementare Grundbedürfnisse des Menschen. Mit dem Erfüllen von Rollen ist das nicht vereinbar. Da kann ich noch so sehr versuchen, die Rolle des tollen Lovers oder der sinnlichen Geliebten zu erfüllen: Wenn ich das jetzt, in diesem Moment nicht bin und nicht fühle, kann ich mich auch nicht gesehen und angenommen fühlen. Wenn wir einander wirklich sehen wollen, dann geht das nur, wenn wir alle Rollen ablegen.

Es ist möglich,

verinnerlichte Botschaften und Rollen zu erkennen, sie anzuschauen und zu hinterfragen: „Stimmt das für mich? Bin ich das wirklich? Fühlen sich diese Botschaften und Rollen gut an? Oder geht es mir nicht gut damit? Empfinde ich dabei Druck? Oder Angst, oder Trauer? Welche Glaubenssätze haben sich in mir daraus entwickelt? Muss ich wirklich immer einen Orgasmus haben? Muss ich immer einen hoch kriegen? Bin nur etwas wert, wenn ich es ihr besorgen kann? Muss ich ihm das Gefühl geben, dass er es „drauf hat“, damit er mich liebt?“ Im Grunde können wir nahezu alles, was wir an Botschaften über Sexualität verinnerlicht haben, und was in uns zu belastenden Glaubenssätzen führt, über Bord werfen. 97 Prozent dessen, was wir über Sexualität vermittelt bekommen, hat möglicherweise nichts damit zu tun, was die eigene Sexualität ausmacht. Es lohnt sich deshalb, neugierig zu sein, und immer wieder zu hinterfragen: Passt das für mich? Trifft es auf mich wirklich zu? Fühle ich mich gut mit dieser Botschaft?

Ein Beispiel:

Zu den Botschaften über die angeblich unterschiedlichen Erregungskurven von Mann und Frau habe ich vor ein paar Jahren Umfragen gemacht. Ergebnis: 92 % aller Teilnehmenden gaben an, dass ihre Erregungskurve je nach Situation stark variiert. Die angeblichen Unterschiede zwischen Mann und Frau lösten sich dadurch völlig auf. Mit dieser Botschaft verknüpfte Glaubenssätze, die uns belasten und in Rollen zwängen, können wir also getrost loslassen. So werden wir offener dafür, zu schauen und zu fühlen. Wir sind aufmerksamer für uns selbst und unsere Partner.

Was uns dabei hilft…

ist konsequent dem zu folgen, was wir gerade fühlen und uns in Achtsamkeit für uns selbst und unser Gegenüber damit zu zeigen, was gerade ist. Den Kopf auszuschalten – auch eine oft gehörte Botschaft(!) – ist dafür übrigens nicht nötig. Der darf ruhig dabei sein. Und wenn mitten im schönsten Vorspiel ein Gefühl – Trauer, Sorgen, was auch immer – quer schießt, ist das völlig in Ordnung. Das Gefühl wird dann ausgesprochen und kann wieder gehen. Oder es ist gerade wichtig, und dann ist es richtig, dass es Raum bekommt. So machen wir die Erfahrung, dass wir mit dem, wie wir sind, angenommen und gesehen werden.
Meine Partnerin und ich haben uns bewusst Zeiträume organisiert, in denen wir einfach mit dem, was sich gerade zeigt, gemeinsam verbunden sind. „Erfüllende“ Sexualität ergibt sich von ganz alleine, indem wir eine „erfühlende“ Sexualität leben. Eine Sexualität, die entspannt genau dem folgt, wonach wir uns gerade fühlen. Und das ist manchmal wildes geiles sich durch die Decken wühlen. Manchmal haben wir aber auch gerade gar keine Lust auf viel Körperlichkeit: „Wollen wir in ein Café fahren und Milchkaffee trinken?“ Und dann lassen wir uns im Café zufrieden und glücklich in die Lehnen unserer Stühle sinken, schauen uns an, und wissen: Erfühlende Sexualität kann alles sein. Auch ein gemeinsamer Milchkaffee. Und beim nächsten Mal gibt´s wieder durchwühlte Decken. Oder ein Rollenspiel. Je nach dem, was sich gerade zeigt. Zu leben was unsere Bedürfnisse in gerade diesem Moment erfüllt: das ist erfüllend.

Artikel erstmals erschienen in: KGS Berlin, Ausgabe 10/2018
für diesen Blog überarbeitet am 09.08. 2019

2019-08-09T19:08:03+00:000 Kommentare

Über den Mythos der unterschiedlichen Erregbarkeit von Mann und Frau

Der folgende Text erschien erstmals im November 2017 als E-Book für den Online Sexualitätskongress

Über den Mythos der unterschiedlichen Erregbarkeit von Mann und Frau  

eine Forschungsreise 

von  Eilert Bartels

Hallo und herzlich willkommen!

Kennst Du das?

Diese Botschaften, die uns immer und überall über unsere Sexualität vermittelt werden?
Die es jedem von uns oft so schwer machen, einfach ins Fühlen zu kommen? Und uns so oft daran hindern, uns unserer eigenen Lust, unseren eigenen Körpern und auch unserem Partner hinzugeben?

Die Botschaft über die unterschiedliche Erregbarkeit von Männern und Frauen ist Eine davon. Und sie macht uns das Leben ganz schön schwer! Dabei ist sie nur Eines:

Ein Mythos. 

Dieser Mythos ist nichts anderes als ein Glaubenssatz, der seit unendlich langer Zeit in unserer Kultur von Generation zu Generation weitergereicht wird.
Ich möchte Dich einladen, Dir einmal folgende Frage zu stellen:

„Wenn ich einmal auf mein bisheriges Leben zurückblicke: Waren meine Erregungskurven immer, in wirklich jeder Situation gleich?“

Wenn Du diese Frage mit „Nein“ beantwortest, gehörst du zu den etwa 92% aller Männer und Frauen, deren Erregungskurve variiert. Je nach Situation.
Wir sind Menschen, keine Maschinen. Und wir reagieren in jeder Situation sexueller Erregung anders. Zum Glück!
Falls Du zu den 8% Prozent derer gehört, deren Erregungskurve immer gleich ist, möchte ich Dich ermutigen, und die übrigen 92% gleich mit:

Freue Dich! Denn wenn Du magst, gibt für Dich noch ganz viel zu entdecken! Wenn Du Lust verspürst, Lebendigkeit und Vielfalt in Dein Leben zu holen, beginne damit, auf Forschungsreise zu gehen und Glaubenssätze zu hinterfragen. Beginne dort, wo es für Dich stimmig ist. Manche Menschen beginnen über Selbsterfahrungs-Räume, ihr eigenes, lebendiges Selbst zu entdecken, andere über Gespräche mit anderen Menschen, manche lesen vielleicht zunächst einmal Texte, so wie Du gerade diesen hier.
Nutze, was Dir einfällt und Dir entgegenkommt. Egal ob Therapien, Gruppenerfahrungen, Tantra, Bücher, oder Dein ganz und gar eigener Weg des Erforschens. Egal. Wichtig ist: Es ist Dein Weg, und Du hast etwas bei Dir, was Dir zuverlässig den Weg weisen kann:

Dein Bauchgefühl!
Fühl immer wieder hin, ob die Botschaften, die Dir vermittelt werden, sich in deinem Körper gut anfühlen. Und wenn sie sich nicht gut anfühlen, forsche nach. Und orientiere dich daran, was sich für Dich gut anfühlt.

Genauso habe ich es auf meine Art und Weise gemacht, als ich danach geforscht habe, was am Mythos der unterschiedlichen Erregbarkeit von Männern und Frauen dran ist.

Und nun wünsche ich Dir viel Spaß beim Lesen meiner Forschungsergebnisse, jede Menge Entdeckerfreude auf dem Weg Deiner selbst bestimmten Sexualität und vielleicht die eine oder andere Anregung zum Selberforschen.

Von Herzen grüßt Dich

Eilert

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Über den Mythos der unterschiedlichen Erregbarkeit von Mann und Frau

Frauen [haben] eine langsamere und flachere Erregungskurve als Männer und [benötigen] daher länger, bis der sexuelle Höhepunkt erreicht ist.“

heißt es zum Beispiel auf Wikipedia im Artikel über die sexuelle Reaktion.

Ja genau, so wird es immer wieder gelehrt.

So werden heute oft die Forschungen von Masters und Johnson zusammengefasst.
Das Problem dabei ist: Masters und Johnson haben das nie gesagt oder geschrieben. Vielmehr betonten sie in der Veröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse: „Die nachstehende Diskussion, die wiederum im Rahmen des Reaktionszyklus erfolgt, sowie die tabellarische Übersicht sollen noch einmal vergleichend die Ähnlichkeiten in der sexuellen Reaktion beim Mann und bei der Frau besonders herausstellen.“

[Masters und Johnson: Die sexuelle Reaktion, dt. Ausgabe Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1970]

Masters und Johnson ging es um Vergleichbarkeit, aber auch darum, Vielfalt menschlicher sexueller Reaktionen sichtbar zu machen.
Darum sind in den so oft zitierten und abgebildeten Erregungskurven von Männern und Frauen verschiedene Linien abgebildet. Sie sollen auf die Vielfalt sexuellen Erlebens hinweisen. Und diese Vielfalt unterscheidet sich nicht nach Geschlechtern.

Viele Menschen haben es traditionell tief verinnerlicht:

das Bild von der nur langsam erregbaren Frau und dem allzu leicht erregbaren Mann. Beinahe scheint es als unumstößliches biologisches Naturgesetz die Rahmenbedingungen zu markieren, innerhalb derer sich Männer und Frauen sexuell begegnen. Es wurde uns ja auch immer wieder vermittelt:

Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass mit nur geringen Ausnahmen die Frauen instinktiv der sexuellen Vereinigung widerstehen.“ hieß es z.B. 1961 noch im Ehehandbuch „Liebe ohne Furcht – eine offene Einführung in das Liebesleben“ über die Sexualität der Frau.

Und bereits 1945 erfuhren z.B. wir von dem Psychoanalytiker Theodore Reik (The Psychologie of Sex Relations) über die Männer: Der rohe Sexualtrieb ist eine biologische Notwendigkeit, die vom Instinkt herkommt. (…) Wenn er sehr erregt ist, braucht er eine augenblickliche Entladung.“

Seit den 1960ern sind zum Glück einige Jahre vergangen. Doch obwohl es auch wissenschaftlich längst nicht mehr haltbar ist, erscheint es vielen Menschen immer noch als naturgegeben, dass Frauen schwerer erregbar sind als Männer. Daran änderten bis heute zahlreiche Veröffentlichungen auch namhafter Sexualforscher, die dies widerlegen, nichts:

Kinsey (1948 und 1953), Masters und Johnson (1966), Shere Hite (1976), Daniel Bergner (2014), und viele Andere haben das Bild von der unterschiedlichen Erregbarkeit von Mann und Frau überzeugend in Frage gestellt.

Dennoch halten die meisten Menschen lieber am Gewohnten fest,

und die Populärwissenschaft bietet dazu den nötigen Halt. Die Errungenschaften der sexuellen Revolution der 1960er und der Frauenbewegung der 1970er und 80er Jahre scheinen fast vergessen: Bücher z.B. über das weibliche und männliche Gehirn verfestigen mit inzwischen kaum mehr haltbaren Thesen die tradierten Rollenbilder vom jagenden Mann und der das Feuer hütenden Frau.
Und so kommt es uns bis heute als völlig normal vor, wenn wir hören:

„Die meisten Frauen brauchen, um zum Höhepunkt zu kommen, ein Vorspiel. Die sexuelle Reaktion der Frau verläuft anders als die des Mannes.“

Solche Aussagen fußen fraglos auf immer wiederkehrenden Beobachtungen.
Und die Konsequenz daraus scheint klar zu sein:

Bereits bevor es überhaupt zu ersten sexuellen Begegnungen kommt, haben wir gelernt, was wir zu erwarten, und wie wir zu sein haben:

„Frauen brauchen eine Extraportion Aufmerksamkeit, der Mann muss sich mehr Zeit nehmen, mehr einbringen, sich der Frau anpassen und sich zurücknehmen.“

So heißt es immer wieder auch in den Textantworten in einer von mehreren anonymen Umfragen, die ich seit November 2014 durchgeführt habe.
Wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung bestätigt sich häufig, was wir erwarten. Und viele Menschen finden innerhalb dieses Rahmens durchaus auch Erfüllung und sexuelle Identifikation. Noch mehr Frauen und Männer allerdings leiden unter der Enge dieser Rollenbilder, fühlen sich unsicher und misstrauen den eigenen sexuellen Impulsen ebenso wie denen ihrer PartnerInnen. Auf dieses Misstrauen kommen wir später noch einmal zu sprechen.

In drei Umfragen

haben mir insgesamt über 700 Teilnehmer Antworten gegeben.
Unter anderem auf die Frage, die Du vielleicht selbst oben auf Seite 3 auch schon beantwortet hast:

„Wenn ich einmal auf mein bisheriges Leben zurückblicke: Waren meine Erregungskurven immer, in wirklich jeder Situation gleich?“

Was sind Deine eigenen Erfahrungen?
Stimmt dieses „Naturgesetz“ der unterschiedlichen Erregbarkeit von Männern und Frauen? Immer? Oder gibt es auch Unterschiede in verschiedenen Situationen: Mit dem eigenen Partner, der Affäre, bei der Selbstbefriedigung, bei verschiedenen Praktiken, usw.?
Dabei hat mich auch interessiert, inwieweit die Befragten diesem Bild von der unterschiedlichen Erregbarkeit allgemein zu-stimmen, und ob dies auch mit ihrem persönlichen Erleben übereinstimmt.

In der dritten und inhaltlich umfangreichsten Umfrage hatte ich deshalb um die Angabe der jeweils kürzesten und längsten erlebten Zeit von der ersten Erregung bis zum Höhepunkt gebeten. Hier die Ergebnisse dieser anonymen Internetumfrage mit insgesamt 290 Teilnehmern (192 Frauen, 90 Männer, sowie 8 Teilnehmern, die sich keinem der beiden biologischen Geschlechtern eindeutig zugehörig fühlen):

Erregungskurven lassen sich nicht nach Geschlechtern zuordnen!

Vielmehr sind sich Männer und Frauen im Durchschnitt überraschend ähnlich!

Die Umfrage ergab:
Während Männer mit 2,5 Stunden durchschnittlich längeren Sex erlebten (längste erlebte Zeit bei den Frauen: im Durchschnitt 1h 40min) , gab es im durchschnittlichen Bereich der „erlebten“ Mindestzeit (Männer: 6min16sek; Frauen: 6,min29sek)  keine wirklichen Unterschiede zwischen Männern (26min40sek) und Frauen (22min42sek).

Wenn es nicht die Geschlechtszugehörigkeit ist, die über schnelle oder langsamere Erregung entscheidet – was ist es dann?
Mehrere Sexualforscher und Sexualtherapeuten (darunter David Schnarch und Ann Marlene Henning) weisen auf das Zusammenwirken der genitalen, bzw. physiologischen Erregungskurve und einer emotionalen Erregungskurve hin.
Auf den Ablauf der genitalen Reflexe nimmt die emotionale Erregung Einfluss, d.h., sie kann die Reflexe verzögern, beschleunigen oder auch unterdrücken.
Aus diesem Grund habe ich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer meiner Umfrage auch darüber befragt, inwieweit verschiedene Gefühlslagen in verschiedenen Situationen den Erregungsverlauf beschleunigen, verzögern, oder gar die Erregung zum Erliegen bringen können.
Und wenn auch Männer traditionell gelernt haben, weniger stark emotional zu reagieren als Frauen: Es gibt letztlich kaum Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Aber es gibt eine deutliche Trennlinie zwischen verschiedenen Gefühlslagen, so, dass sich festhalten lässt:

Unterschiedliche Erregungskurven haben nichts mit Geschlechtern zu tun, sondern mit Gefühlen!

Vertrauen (für 77% der Frauen und 56% der Männer:) und Lust ( für 96,5% der Frauen und 89% der Männer) beschleunigen und intensivieren sexuelle Erregung für Männer, stärker aber noch für Frauen. Geilheit beschleunigt die Erregung für 93,5% der Männer und 89% der Frauen deutlich.

Eindeutig auf der anderen Seite der Trennlinie finden sich folgende Gefühlslagen, die die Erregung verzögern oder sie ganz zum Erliegen bringen:
Angst bremst für 92% der Frauen und 88% der Männer die Erregung klar aus. Bei Unlust verzögert sie sich für 96% der Frauen und 90% der Männer. Mit Misstrauen sinkt die Erregung für 96% der Frauen und 85% der Männer deutlich.

Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer schrieben,
sie fühlten sich angesichts der unterschiedlichen sexuellen Rollenbilder im Bett verunsichert und dem Druck ausgesetzt, bestimmten Erwartungen an männliches oder weibliches Verhalten zu entsprechen oder dieses zu unterdrücken, um mit dem Partner/der Partnerin erfüllende Sexualität erleben zu können. Das bereits erwähnte Misstrauen spielt bei den tradierten Geschlechterklischees eine tragende Rolle. Männer kommen vom Mars, und Frauen von der Venus? Solange wir das glauben, scheint die Verständigung schwierig zu sein.

Mit diesem Text, wie auch mit meinem Buch „Mannliche und weibliche Erregungskurven“ möchte eine Diskussionsgrundlage dazu schaffen, die in ihrer Festlegung ja ohnehin schon brüchig gewordenen Geschlechterrollen noch weiter zu hinterfragen. Ich denke nicht, dass dabei das „erotisierende Spiel von männlich und weiblich“ aufgegeben werden muss. Im Gegenteil!
Mehr Bewusstheit ermöglicht ja überhaupt erst einen spielerischen Umgang mit Rollen.

Und mehr Bewusstheit wäre wichtig!

Denn unabhängig davon, ob die Befragten dem tradierten Bild männlicher und weiblicher Erregbarkeit allgemein zustimmen, oder ob sie es für allgemein unzutreffend halten, gibt es eine klare Tendenz hin zu der Ansicht, dass ein Mann sich in sexuellen Begegnungen „vor allem auf die Wünsche und auf die Geschwindigkeit Frau einstellen sollte“. Das finden Männer ebenso wichtig wie Frauen. Viele Frauen erkennen heute zum Glück auch für sich selbst die Wichtigkeit, ein gutes und vertrauensvolles sexuelles Selbstbild zu entwickeln, sich und ihren Körper gut zu kennen.

Anders sieht es da bisher leider für die Männer aus:
Für die meisten Frauen und Männer (!) scheint es wenig Bedeutung zu haben, dass Männer sich und ihren Körper gut kennen, oder dass sie ein gutes vertrauensvolles Bild ihrer eigenen Sexualität entwickeln. Das ist schade!
Z.B. sagte mir ein älterer Mann, er habe erst mit Ende fünfzig festgestellt, dass seine Brustwarzen erogene Zonen sind. Das mag auch damit zu tun haben, dass Männern in unserer Gesellschaft allgemein wenig Körper- und Gefühlsbewußtsein vermittelt wird, und dass es auch oft misstrauisch beäugt wird, wenn Männer sich mit ihrer eigenen Sexualität beschäftigen.

Das tradierte Misstrauen sitzt tief:
„Wohin soll das führen, wenn Männer nun auch noch dazu ermuntert werden sollen, ungehindert das zu tun, worauf sie Lust haben?“ fragte mich jüngst eine  dreißigjährige Frau. Eine Blitzumfrage, die ich nach der obigen Auswertung zusätzlich und abschließend noch durchgeführt habe, ergab, dass nicht nur Frauen, sondern tatsächlich auch Männer selbst, männlicher Sexualität spürbar weniger Vertrauen entgegenbringen als der Weiblichen!

Ich frage mich aber:

Woher sollen Männer die Fähigkeit nehmen,
sich auf eine/n PartnerIn einzulassen, wenn sie sich und ihren eigenen Körper selbst kaum kennen, und ihrer eigenen, ihrer männlichen Sexualität nicht trauen?
Darum wünsche mir nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer einen Raum der sexuellen Begegnung. Einen Raum, in dem wir eine offene, gerne auch kritische, aber nicht allein auf Misstrauen eingeengte, liebe- und freudvoll zugewandte Sicht auf männliche, ebenso wie auf weibliche Sexualität entwickeln können.

Ich bin mir sicher:

Die Sehnsucht nach solchen Räumen ist riesengroß!

Die Sehnsucht nach Räumen, in denen wir aus diesen Rollen aussteigen können und uns in unserer Ganzheit gesehen fühlen können.

Fast ein Drittel aller Antwortenden stimmen dem Bild der unterschiedlichen Erregbarkeit von Mann und Frau zwar zu, wünschten sich aber, es wäre anders.
Vielen Menschen mag es leichter fallen, sich mit dem Glauben an die unterschiedliche Erregbarkeit der Geschlechter zu arrangieren, als den Gefühlen nachzuspüren, die einer erfüllenden Sexualität möglicherweise im Wege stehen. Dabei könnte sich das lohnen:

Immerhin 45 Prozent halten das Bild unterschiedlicher Erregbarkeit für unzutreffend.

Und in dieser Gruppe scheint sexuelle Identifikation stärker über das Selbst-empfinden zu entstehen, als über irgendwelche Rollen.

Hier findet sich in den Textantworten häufiger eine Betonung von Eigenverantwortung für das sexuelle Erleben, und auch mehr Bewusstheit für das körperliche und emotionale Erleben während sexueller Begegnungen wird spürbar. Aus diesen Antworten klingt eine größere Vielfalt sexuellen Erlebens in Zeit, Intensität und Vorlieben an.

Das Aussteigen aus den Rollen und Klischees,

die irgendwer uns irgendwann einmal zugewiesen hat, macht es uns möglich, uns als das zu erkennen, was wir wirklich sind: Wesen mit der Möglichkeit zu einer wirklich selbst bestimmten Sexualität.
Ein wichtiger Schritt dahin wäre es, schnellere oder langsamere Erregungkurven als das zu erkennen, was sie sind:

Eine Ausdrucksebene von Gefühlen. Und Gefühle sind nicht geschlechtsspezifisch.

Dieser Text enthält Auszüge aus dem Buch

„Männliche und weibliche Erregungskurven – Ein Plädoyer für eine sexuelle Selbstbestimmung jenseits von Scham und Rollenklischee“, Eilert Bartels, Mai 2016

2019-04-15T12:54:41+00:000 Kommentare