Jahresrückblick 2019

Jahresrückblick 2019
Drei Jahre ist es her,
seit ich dem Impuls gefolgt bin, und erstmals einen Jahresrückblick geschrieben habe. Damals war es die Initialzündung zum Projekt huMANNoid | Männer sind Menschen, das mich seither intensiv begleitet und für das ich natürlich auch da bin, ist es doch „mein Baby“ gewesen.
Seither stehe ich mit dem Projekt in der Öffentlichkeit, und auf der gleichnamigen facebook-Seite findet Ihr alles darüber, wie sich das Projekt entwickelt hat, so dass ich das hier nicht ein weiteres Mal ausbreiten will.


Andererseits bin ich so sehr mit dem Projekt und dem Buch verbunden, dass es natürlich auch in diesem Jahresrückblick eine zentrale Rolle spielen wird. Hier will ich aber den Fokus mehr darauf legen, was das Jahr, das Projekt und das Buch mit mir selbst, dem Mann und Menschen Eilert, gemacht hat.


 
Das Jahr 2019 war krass.
Es war intensiv und fordernd, es hat mir alles abverlangt und noch mehr gegeben. So richtig weiß ich noch nicht, was sich daraus entwickeln wird in den nächsten Jahren.

Sicher ist: Es hat mich verändert. Ich bin sicherer in mir geworden. Mit dem Projekt habe ich mich so sehr in meiner Ganzheitlichkeit gezeigt wie nie zuvor, habe mich „nahbar“ gemacht, wie es eine Freundin ausdrückte, so dass es zur Zeit wenig im Außen gibt, was mich nachhaltig aus meiner Mitte bringt. Ich bin dankbar dafür.

Zugleich hat es mich sensibler gemacht, fast hätte ich verletzlicher geschrieben, aber das trifft es nicht. Eher ist es so, dass ich alte Verletzungen deutlicher spüre, von denen ich zum Teil weiß, dass es Themen in meiner Biografie sind, die ich vielleicht noch bearbeiten darf.
So ist mir im November noch einmal deutlicher bewusst geworden, wie viel Schmerz in mir ist aus der Kindergartenzeit und der Schulzeit, die teilweise von Mobbing und Ausgegrenztsein geprägt war.

 
Das ist die Ebene, die ich bearbeiten kann, auf der ich zuversichtlich und ohne große Angst bin. 
Ich habe in meinem Leben gelernt, Verletzungen anzusehen, zu integrieren und zu transformieren.
 Und das gelingt mir auch allein schon mit dem Projekt selbst: Hier gehe ich mit Menschen in Kontakt, zeige mich, spreche vor Menschen, die mir zuhören (oh, wow!) und bin in diesen Momenten da, voll und ganz präsent.
Sich verletzlich zeigen zu können, das, was früher einmal Gefahr und fast so etwas wie ein „soziales Todesurteil“ war, ist heute – wo ich in der Lage bin, gut für mich und diese verletzten inneren Anteile zu sorgen – ein großes Potential geworden.

Während meiner therapeutischen Ausbildungen sagte ein Mit-Lernender zu mir: „Eilert, Du bist Dir Deiner Macht nicht bewusst.“ Ich wusste das damals noch nicht zu greifen, was er mir damit sagen wollte. Erst allmählich begreife ich. Danke, für diesen wichtigen HInweis!



Es gibt aber noch eine weitere Ebene, die tiefer geht als meine Biografie, mein 51jähriges Leben.
 Eine Ebene, die so viel größer ist als ich, zu groß, um sie wirklich ganz zu überblicken.
 Eine Ebene, angesichts welcher ich manchmal Ohnmacht und Verzweiflung spüre.

Es gibt die Ebene kollektiver Verletzung von Geschlechtlichkeit und Sexualität, die wohl Zeit meines bisherigen Lebens innere Triebfeder ist, mich mit Geschlecht, mit Sexualität und all den Debatten darüber auseinanderzusetzen.
Seit sechs Jahren verfolge ich dabei Gedankenstränge anderer Menschen, die sich zum Thema äußern, aber auch meine eigenen. Ich spüre: Ich sitze da auf etwas, was ich intuitiv zu verstehen beginne, und was raus will, was in Worte und Bilder gebracht werden will. Und ich habe Angst davor! Ich probiere mich damit noch aus in wenigen Vier-Augen-Gesprächen. Ich spüre den Impuls, einen Text dazu zu schreiben. Aber nicht hier und jetzt.
 Der Jahresrückblick ist eh schon so lang.
 
In meinen Lesungen
lese ich immer auch die Zeilen:
„Ich habe genug vom Geschlechterkrieg. 
Mit dem Buch, das ich Euch heute vorstelle, will ich aus dieser Debatte aussteigen.
Vielmehr geht es mir darum, eine ganzheitlichere Sicht auf männliche Menschen zu ermöglichen. Eine Sicht, die nichts verschweigt und nichts beschönigt. Kein Ringen um Rollen und Klischees. Keine neuen Ideale. Ich bin überzeugt davon:
Wir müssen Reifrock und Ritterrüstung ablegen.
 Wenn wir einander wirklich sehen und berühren wollen, müssen wir uns zeigen. Jenseits aller Rollen. Und ich glaube, so wird es auch möglich, einander zu verstehen.“


In diesem Jahr 2019, in dem das Buch erschien, bin ich tatsächlich zunehmend aus der Debatte ausgestiegen.
Das Buch huMANNoid | Männer sind Menschen erschien Ende März, und es gab erstmal viel Freude und Wirbel um das Buch. Viel Anerkennung für meine „Arbeit“, erste Rezensionen erschienen von wunderbaren Menschen, mit denen ich über meine Arbeit schon seit Jahren verbunden bin. Eine gute Freundin meinte: Das Buch wird einschlagen wie eine Bombe! Es gab allererste Lesungen: Die Buchpremiere am 13. April bei uns in der Praxis, dann zwei geschlossene Lesungen auf dem Bundesweiten Männertreffen und dem Barcamp Sex. Eine erste – und bisher die einzige, aber dafür umso wundervollere Buchbesprechung in den „richtigen öffentlichen Medien“ von Mithu Sanyal im Radio (WDR).

(So sehr danke dafür, liebe Mithu!!!)
 
Und danach, ab Anfang Juli, kam erstmal …
nichts …


Funkstille.
Keine Reaktionen, keine Buchbestellungen, nichts.
Journalist*innen und andere Menschen, die angebotene Rezensionsexemplare gern angenommen hatten, antworten auf meine Nachfragen nicht mehr, Menschen, die Lesungen organisieren wollten, meldeten sich zunächst mal nicht mehr zurück. Das tat ganz schön weh, wenn ich ehrlich bin.

Ignoriert zu werden ist immer noch eine krasse Erfahrung für mich.
 
Ich dachte trotzdem erst einmal: okay, ist vielleicht ganz gut. Zeit, das alles zu verarbeiten, und Pläne für die zweite Jahreshälfte zu machen. Alles los zulassen. 
Urlaub in Schottland, mit Judika und unseren fast erwachsenen Kindern waren wundervolle zwei Wochen, um sich daran zu erinnern, dass es neben meiner „Arbeit“, und sei sie noch so wichtig, auch noch ein Leben gibt. Einfach sein, eintach atmen.

 
Mitte Juli kam ich aus dem Urlaub zurück …
und fiel in ein Loch.
 

Ich war müde, so müde. Ab und zu las ich Artikel oder Posts meiner Facebook-Freundinnen und Freunde, Artikel zur Geschlechterdebatte, Femizide, Männergewalt, immer und immer wieder über toxische Männlichkeit, alte weiße Männer und dachte:
Nein! Ich will nicht mehr! Ich kann nicht mehr. 

Fühlte Endlosigkeit, Hilflosigkeit und Ohnmacht. Fragte mich: Wozu habe ich dieses verfickte Buch eigentlich gemacht. Es wird Zeit, dass wir diese Debatte endlich überwinden! Ich will raus aus dieser Hölle. Zwischendurch habe ich gedacht:
„Wenn ich morgen nicht mehr aufwache, wäre ich froh.“
 
Einer Freundin schrieb ich neulich über diese Phase:
„Also ich habe tatsächlich das Gefühl, mir sitzt da eine kollektive Geschlechtertraumatisierung in den Körperzellen. Ich reagiere manchmal so stark körperlich beim bloßen Lesen mancher Artikel. Du kennst vermutlich die Klagen „alter weißer Männer“ darüber, dass sie sich einer Hexenjagd ausgesetzt fühlen. Ich weiß nicht, ob diese Männer das wirklich so empfinden, oder ob das als Abwehr von Veränderung nur so daher gesagt wird. Aber ich kenne das Gefühl körperlich. Manchmal bekomme ich beim Lesen von Artikeln, die die Geschlechterrollen so unausweichlich festnageln HerzrhythmusStörungen, einen Klumpen im Bauch, der um sich frisst. Es fühlt sich dann nach unterschwelliger Panik an.“
(Es gibt einen Teil in mir, der auf kollektiver Ebene zu verstehen beginnt, warum die Suizidrate von Männern so hoch liegt.)

Und dann habe an mir selbst gezweifelt:
Ist das alles nur meins? 
Stimmte meine Motivation nicht? Bin ich einmal mehr meiner Sucht nach Anerkennung aufgesessen? Bereits zehn Jahre zuvor hatte ich nach 30 Jahren Musizierens das Musikmachen aufgegeben, als ich erkannt hatte, dass es mir nicht um die Musik selbst ging, sondern um die verfickte Anerkennung! Die bekam ich für meine Musik sogar, aber die Anerkennung kam damals nicht in meinem Herzen an. War es diesmal wieder so?
 
Mit der Zeit und mit vielen Gesprächen mit engen Freunden (danke, dass es Euch in meinem Leben gibt !!!) kam ich im Laufe des August/September aus diesem Loch wieder raus, und wusste zweierlei:

Erstens: Ich habe das Buch auf jeden Fall um seiner selbst Willen und für mich gemacht. Ich bin daran gewachsen, habe mich entwickelt, und bin mit anderen Menschen in Begegnung gegangen wie vielleicht noch nie zuvor. 
Zweitens: Anerkennung haben zu wollen ist voll okay! Es steckt nicht nur wahnsinnig viel Zeit und Geld in meiner Arbeit, sondern ich will und darf damit auch gesehen werden. Vor allem von mir selbst! Gesehen werden ist überhaupt das elementarste Grundbedürfnis eines jeden Menschen! 

Aber ich darf „mein Baby“, das ich in die Welt gebracht habe, auch loslassen, es „Kind“ werden lassen, auch mal ein paar Schritte allein gehen lassen.
 

Seither bin ich aus dem Loch raus.
Und es kam auch alles wieder in Bewegung, kamen die Menschen wieder auf mich zu, die mich einladen wollten, bei sich zu lesen, und innerhalb einer Woche waren alle fünf Lesungen im November klargemacht.

„Dein Buch sollte eigentlich durch die Decke gehen.
Das ist so wichtig. Und so berührend.“ schrieb mir vor ein paar Tagen eine Freundin.
Nun, es geht bisher nicht durch die Decke Es schlägt auch nicht ein wie eine Bombe.
Daran änderte bislang auch nichts, dass ich noch einmal Geld investiert habe für einen professionellen PR-Menschen, der hunderte von Pressevertretern für das Buch angeschrieben hat. Die Reaktion in der breiten Öffentlichkeit ist bisher praktisch gleich null.

 
Aber da, wo Menschen mit meiner Arbeit, wie es viele nennen, in Berührung kommen, bewegt es die Menschen. Und dafür hat es sich gelohnt. Aber sowas von!
Gerade erst in den letzten Tagen schrieb mir der Veranstalter einer der huMANNoid-Lesungen: „Eines der Highlights in 2019 war dein Buch und die Lesung mit dir bei mir!!! Die Beziehungen zu Menschen, welche auf der Lesung waren, haben sich intensiviert. … Es war richtig und wichtig, dich hier zu haben!“

Eine Freundin schreibt mir: „Insbesondere wollte ich dir erzählen, wie sehr mir die Männer in deinem Buch über eine schwere Zeit hinweggeholfen haben. Ich konnte mich in jedem von Ihnen wiedererkennen, habe mit ihnen gelacht und geweint. Es ist wie eine Reise zu einem selbst! All die Perspektiven, die in uns allen schlummern, doch nicht rauskommen, erst wenn sie getriggert werden! Vielen Dank für dieses wundervolle Geschenk!“


 
Ich bin so dankbar für alles, was mir mein Leben und meine Arbeit in diesem Jahr geschenkt hat.
 An dieser Stelle merke ich, wie schwer es mir fällt, „Arbeit“ und Leben voneinander zu trennen. 
Aber ich bin dankbar zu spüren und zu erkennen, dass das alles, mein Leben, meine Arbeit einen Sinn ergibt.
Das von meiner 2015 verstorbenen Mutter geerbte Geld hat mich die letzten Jahre sehr unterstützt, aber das wird es nicht in alle Zukunft. Danke, dass Du mich genährt hast, Mutti!
 Du bist zwar meinen Fragen ausgewichen, aber Du hast mich nicht infrage gestellt, sondern an mich, Dein Kind, geglaubt. Danke, dass Du mich auch in Zeiten versorgt hast, in denen ich Dich durchaus infrage gestellt habe. Heute beginne ich, zu verstehen.


Was das neue Jahr bringt?
Ich weiß es nicht. Aber ich bin zuversichtlich.
Mein „Kind“ wird weiterlaufen, eigene Schritte machen, und ich sehe meine Aufgabe darin, da zu sein, wenn es mich braucht. Aber ich werde nicht mehr jeden Atemzug überwachen müssen. Im Januar gibt es nochmal drei Lesungen in Wuppertal, Bonn und Köln, dann noch eine Lesung im Oktober in Nürnberg. Alles weitere wird sich finden.

Ich wünsche mir, dass meine Arbeit mich künftig mit genügend Geld versorgt, damit ich sie fortführen kann.


 
Ideen habe ich eine ganze Menge – die nächsten Jahre werden mir mit Sicherheit nicht langweilig.

Gemeinsam mit Judika und Amrita Torosa wird es am 20.3. – zum Weltglückstag in unserer Praxis Beziehungsperspektive einen Workshop zum Geschlechterglück geben. Ich bin gespannt, was wir da aushecken werden.

Judika und ich tragen uns mit dem Gedanken, unsere Erfahrung und unser Wissen aus 30 Jahren Beziehung und fünf Jahren Paartherapeutischen Arbeitens in Buchform zu bringen.

Ein guter Freund möchte mit mir ein Buch zum Thema „Gewalt“ schreiben.

 
Aber was mich selbst eigentlich seit Beginn des Projektes huMANNoid | Männer sind Menschen begleitet: Ich will das Projekt auch noch einmal mit Frauen machen.
 Eine Freundin schrieb mir dazu neulich: „Ich wäre vorsichtig, das Buch als Mann mit Frauen zu machen.“

Mein Gedanke dazu: Ich habe huMANNoid als Mensch mit Männern gemacht. Männer sind Menschen. Frauen sind Menschen. Und als Mensch dieses Buch auch mit Frauen zu machen, würde es für mich erst rund machen. Denke ich da zu naiv? 


 
Wir werden sehen, was uns das neue Jahr 2020, das neue Jahrzehnt bringt.

Ich wünsche Euch und uns allen ein gutes und bewegend berührendes Jahr 2020.
Machen wir etwas Gutes daraus!


 
Jahresrückblick

Eilert Bartels

2020-01-05T20:40:40+00:000 Kommentare

Gedanken zum Edeka Werbespot

Gedanken zum Edeka – Werbespot

Zum Muttertag hat vor ein paar Tagen die große Supermarktkette Edeka einen Werbespot herausgebracht, über den das Internet heiß diskutiert und der die Gemüter – nicht ganz zu unrecht – aufbringt.
Dieser Spot zeigt eine Reihe Väter, die im Zusammensein mit ihren Kindern ihre Ungeschicke des Alltags erleben.
Am Ende wendet sich ein Kind seiner Mutter zu und wir hören den Satz:

„Mama, danke, dass du nicht Papa bist.“

Ich habe mir ein paar Gedanken zum Edeka Werbespot gemacht:

Dieser Spot will provozieren

Und er will Aufregung erzeugen und Aufmerksamkeit für eine Marke erregen. Das ist der Sinn von Werbung.
Hier aber funktioniert die Botschaft nicht.
Denn lassen wir diesen unseligen und familienspaltenden letzten Satz des Clips einmal aussen vor:
Ich schaue – und das meine ich vollkommen Ernst – voller Liebe auf diese Väter, denn Ihnen ist eines gemeinsam, was inzwischen ein paar Generationen von Männern und Frauen in ihrer Kindheit nicht mehr hatten:

Diese Väter sind da!

Sie sind bei ihren Kindern!
Sie sind da, und sie tun etwas, was sehr, sehr menschlich ist: sie machen Fehler. Sie sind voller Liebe und Fürsorge, und ja, sie machen dabei auch Fehler. Und sie bleiben dennoch da. Das nimmt ihnen nicht ihre Würde, im Gegenteil!
Sie leben Menschlichkeit vor.
So, wie das ganz viele Eltern aller Geschlechter tun, so gut es ihnen möglich ist. Und das ist wunderschön und herzerwärmend!
Gibt es etwas Würdevolleres?

Ich habe dieses Video heute abend meinen fast erwachsenen Kindern (17 und 16) gezeigt, und in ihre warmen Augen geblickt. Bis fast zum Schluss. Es ist wirklich nur dieser eine letzte Satz, der diese Wärme mit einem einzigen zynischen Augenblick schockfrostet. Meine Kinder saßen einen langen Moment fassungslos erstarrt da, als würde sich giftige Galle aus dem Bildschirm auf den Tisch ergießen.

Beherzt haben wir das Ganze weggewischt:

Danke, dass es jede*n Einzelne*n von uns gibt!
Danke, dass wir miteinander und füreinander da sind!
Danke, dass wir miteinander und aneinander Fehler machen dürfen, und wir trotzdem für uns alle Platz in unseren Herzen haben.
Danke für die Erinnerung, dass unsere Welt besser ist, als uns Werbemacher einreden möchten, die nichts anderes wollen, als eine Marke zu verkaufen.
Denn
Väter sind Menschen
Mütter sind Menschen
Kinder sind Menschen
Wir sind Menschen

In diesem Sinne:
Alles Gute zum Muttertag!

2019-05-11T14:54:46+00:000 Kommentare