Dankbarkeit und Einsamkeit

Dankbarkeit und Einsamkeit

Dankbarkeit und Einsamkeit – Gedanken und Gefühle nicht nur zur Weihnachtszeit

Es gibt – inzwischen – vieles in meinem Leben, wofür ich dankbar bin. Dass ich ein Dach über dem Kopf habe, genug zu essen, dass ich die unfassbare Freiheit habe, auf die Art und Weise zu arbeiten, wie es mir entspricht und woran es mir entspricht, vor allem aber, dass es Menschen in meinem Leben gibt, die mich lieben und mich nehmen, wie ich bin. All das erfüllt mich mit Freude.
Manchmal aber verliere ich den Kontakt zu meinem Gefühl der Freude. Dann bricht sich in mir etwas Bahn, das tief in meinem Inneren lebt, dort, wo es dunkelschwarz ist, voller Schmerz und Endlosigkeit. Etwas, das immer mit dabei ist, und umso mehr sich Bahn bricht, je weniger ich es dabei haben will.

Einsamkeit.

Diese Einsamkeit hat nichts damit zu tun, ob ich gerade allein bin, oder viele Menschen um mich herum sind. Sie hat auch nichts damit zu tun, ob es Menschen in nah und fern gibt, die mir zugewandt sind oder mich sogar lieben. Ich vermute, dass einen Teil dieser Einsamkeit die frühkindliche Erfahrung des Verlassen-Seins ausmacht. Ich ahne, dass selbst ohne diese Erfahrung das Einsam-Sein zum Mensch-Sein dazu gehört. Und ich glaube, dass Einsamkeit etwas ist, das ich als Mensch nicht vollständig überwinden kann.
Wir können uns zwar miteinander verbinden, etwa darüber, dass wir Erfahrungen miteinander teilen. So wie ich es hier gerade tue, indem ich diesen Text schreibe. Wir können zum Beispiel die Erfahrung miteinander teilen, wie eine Ananas schmeckt. Und dennoch: selbst da bleibt etwas, was ich nicht teilen kann. So sehr ich mich bemühe, es dir zu beschreiben: Du wirst niemals erleben, wie MIR eine Ananas schmeckt. Mit dieser Erfahrung bleibe ich einsam. Ich könnte es auch so schreiben: „ein-sam“. So, wie Zwei-samkeit Momente beschreibt, die wir gemeinsam – nur zu zweit – miteinander erleben, nur uns beiden gehören, sind Momente der Ein-samkeit Momente, die nur mir allein gehören. Die auch kostbar sein können.

Aber kehren wir zurück

zu diesem Teil von Einsamkeit, der an die Erfahrung des Verlassen-Seins anknüpft. Denn ich weiß, dass es in meinem Leben Momente im Jahresverlauf gibt, die massiv dazu beitragen können, dass dieser Teil von Einsamkeit sich Bahn bricht, dorthin, wo es dunkelschwarz ist, voller Schmerz und Endlosigkeit. Weihnachten ist so ein Moment, wo das passieren kann. Ebenso regelmäßig wiederkehrende Rituale wie zum Beispiel das Feiern meines Geburtstags, usw. Kurz: Momente, in denen von mir erwartet wird, dass ich mich auf eine bestimmte Weise fühlen sollte. „Dankbar fühlen“, zum Beispiel, „fröhlich fühlen“, zum Beispiel.

„Lasst uns froh und munter sein!“

– manchmal passt es. Dann ist alles gut. Dann fühle ich mich dabei, verbunden mit Euch und in Gemeinschaft.
Manchmal aber bin ich nicht froh, nicht munter. Manchmal bin ich erschöpft, nachdenklich, still, bewegt, berührt. So wie in diesem Jahr, nachdem ich 16 Frauen interviewt habe und seit einem halben Jahr täglich an den Abschriften arbeite.
Und plötzlich stand Weihnachten vor der Tür.
Ich bin Familienvater. Ich bin in unserer Familie hauptsächlich derjenige, der kocht, nicht nur, aber eben auch zur Weihnachtszeit. Es war verabredet, was wir an welchem Tag essen wollen, und dass wir etwas gemeinsam machen. Spazieren gehen, Spiele spielen, all so etwas. Wie dankbar darf ich sein, Familie zu haben, das „Fest der Liebe“ nicht allein erleben zu müssen! Gerade zu Corona-Zeiten!

Und dennoch: Ich war dieses Jahr nicht froh und munter.

Und es ist zum großen Teil ein Druck, den ich mir selber gemacht habe, etwa, wenn mir liebe Menschen Weihnachtsgrüße schicken. Per WhatsApp, E-Mail oder sogar – ganz altmodisch, per Post. Dann ist der Gedanke da: „Du hast es vermasselt. Du hast keine Glückseligkeit verbreitet! Du hast es versäumt, frohe Weihnachten zu wünschen. Deinen Freunden nicht, Deinen Geschäftspartnern nicht.“ usw.
Das ist der Moment, wo ich mich selbst verlasse.
Denn jetzt, nachdem der „Spuk“ vorbei ist, und ich diesen Text schreibe, ist mir klar, dass auch ich selbst diesen Teil von Einsamkeit wachrufe. Diesen Teil, der an der Erfahrung des Verlassen-Seins anknüpft, dort, wo es dunkelschwarz ist, voller Schmerz und Endlosigkeit.
Ich rufe diesen Teil von Einsamkeit durch Verlassen-Sein in mir wach, solange ich der Vorstellung folge, dass Rituale auf eine bestimmte Art und Weise gefeiert werden müssten, und bestimmte Gefühle hervorrufen müssten. „Lasst uns froh und munter sein.“

Mir wird klar, dass ich selbst es bin,

der das Gefühl des Verlassen-Seins ins mir wachruft, wenn ich mich dazu auffordere, so zu fühlen, wie ich im Moment aber nicht fühle.Nein, das muss ich nicht! Ich muss nicht „froh und munter“ sein, wenn ich erschöpft, nachdenklich, still, bewegt, berührt bin. So wie in diesem Jahr.
Dann kann ich für mich Wege suchen und finden, Weihnachten auf meine Weise zu feiern. Dann darf ich Schmerzen, Trauer, Nachdenklichkeit spüren, darf einfach still dabei sein, und mir – in mir und für mich  – Raum geben, dass die Gefühle da sein dürfen. Das geht auch, ohne die Menschen um mich herum in Mitleiden-schaft zu ziehen. Indem ich zum Beispiel sage: „Ich bin gern mit Euch zusammen. Nur ist es in mir gerade nicht „froh und munter“, und ich würde mich freuen, wenn ich gerade einfach so sein darf, wie ich bin, während ich mit euch zusammen bin.“
Das für mich Spannende ist:

Dadurch bin ICH dann bei MIR.

Ich verlasse mich selbst nicht mehr, weil ich mich annehme mit dem, wie ich bin und mit dem, was ich gerade fühle.
So kann dieser Teil von Einsamkeit in mir, der an die Erfahrung von Verlassenheit anknüpft, endlich Frieden finden. Und ja: Jetzt klappt es auch mit der Dankbarkeit. Ich bin dankbar, dass ich mir erlauben kann, zu fühlen wie ich fühle, und die Verantwortung dafür bei mir halten kann. Dann habe ich mich bei mir.

Und ich bin dankbar, Menschen um mich herum zu haben, die mich so nehmen, wie ich bin. Sehr dankbar.
Danke, dass es Euch gibt!

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

2020-12-29T09:05:14+00:004 Kommentare

Erfüllende Sexualität – Raus aus dem Druck!

Erfüllende Sexualität – Raus aus dem Druck
Wenn ein Milchkaffee erfüllende Sexualität sein kann


Foto: ulleo / Pixabay

Eine erfüllende Sexualität

Wer wünscht sich das nicht? „Eine erfüllende Sexualität ist es, wenn zwei Menschen danach erschöpft, glücklich und zufrieden in ihre Kissen sinken.“ meldete sich spontan eine Frau mit leuchtenden Augen, als meine Partnerin und ich in einem Gesprächskreis zum Thema „Meine Sexualität“ danach fragten, was eine „erfüllende“ Sexualität eigentlich sei. Dann hielt sie einen Moment inne und das Leuchten in ihren Augen verlosch, ehe sie zögerlich sprach: „Aber dahin zu kommen, das ist die große Schwierigkeit.“ Es scheint also, als müssten wir erst mal Anstrengungen auf uns nehmen, um schließlich zum Ziel zu kommen.

Was eine erfüllende Sexualität sei,

und welche Bedingungen dafür erfüllt werden müssen, das vermitteln uns auch Illustrierte, Film und Fernsehen. Filmpaare mit perfekten Körpern setzen uns Bilder in den Kopf. Zeitschriften und Magazine legen nach: „7 Tricks, wie du sie ins Bett kriegst.“ „10 Tipps, wie er dich sexy findet“, usw. Wir alle sind bis zum Rand vollgestopft mit unzähligen Botschaften über unsere Sexualität, unsere Lust und unsere Körper. Wir haben Vorstellungen und Bilder verinnerlicht, wie unser Sex sein sollte, oder auch darüber, wie es doch tatsächlich sei. „Er muss es ihr besorgen können.“, „Sie braucht ein langes Vorspiel.“, „Männer wollen nur das Eine.“, „Sie muss sexy sein.“, „Die erogenen Zonen der Frau sind nicht leicht zu finden.“ „In langen Partnerschaften schwindet auf Dauer die Lust aufeinander.“ und so weiter. Das Problem ist: Bei so vielen Botschaften und Bildern schwindet auch die Lust auf Sex. Eine „erfüllende“ Sexualität scheint nicht so einfach zu sein.

Wie eine Aufgabe,

die es – nun ja – eben zu erfüllen gilt. Oder zumindest wie ein lang gehegter Wunsch nach etwas, vor dessen Erfüllung erst bestimmte Bedingungen erreicht werden müssen. Wer jemals als Kind sein Taschengeld über viele Monate gespart hat, um sich einen großen Wunsch zu erfüllen, wer jemals eine Woche brav sein musste, damit man am Wochenende mit ins Kino durfte, kennt das. Es ist das Gefühl, Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen und Bedingungen „erfüllen“ zu müssen, um ein Ziel zu erreichen. Und genau das ist es, was einer „erfüllenden“ Sexualität dann im Wege steht: Wie will ich erschöpft, glücklich und zufrieden in mein Kissen sinken, wenn mir nicht bereits das, was davor passiert, Freude und Erfüllung bereitet?

Es lohnt sich also,

sich aus der Vorstellung, etwas erfüllen zu müssen, zu verabschieden. Worum geht es uns eigentlich, wenn wir miteinander Sex haben wollen? In unserer Praxis fragen wir die Menschen gelegentlich danach: „Was ist es, was eine gemeinsam gelebte Sexualität für dich wertvoll macht?“ Eine junge Frau hat das neulich wunderbar zusammengefasst: „Vom Alltag abschalten zu dürfen und endlich nicht mehr funktionieren zu müssen. So sein zu dürfen, wie ich bin und mich dabei angenommen und geborgen zu fühlen – mich gesehen zu fühlen.“
Das befriedigt elementare Grundbedürfnisse des Menschen. Mit dem Erfüllen von Rollen ist das nicht vereinbar. Da kann ich noch so sehr versuchen, die Rolle des tollen Lovers oder der sinnlichen Geliebten zu erfüllen: Wenn ich das jetzt, in diesem Moment nicht bin und nicht fühle, kann ich mich auch nicht gesehen und angenommen fühlen. Wenn wir einander wirklich sehen wollen, dann geht das nur, wenn wir alle Rollen ablegen.

Es ist möglich,

verinnerlichte Botschaften und Rollen zu erkennen, sie anzuschauen und zu hinterfragen: „Stimmt das für mich? Bin ich das wirklich? Fühlen sich diese Botschaften und Rollen gut an? Oder geht es mir nicht gut damit? Empfinde ich dabei Druck? Oder Angst, oder Trauer? Welche Glaubenssätze haben sich in mir daraus entwickelt? Muss ich wirklich immer einen Orgasmus haben? Muss ich immer einen hoch kriegen? Bin nur etwas wert, wenn ich es ihr besorgen kann? Muss ich ihm das Gefühl geben, dass er es „drauf hat“, damit er mich liebt?“ Im Grunde können wir nahezu alles, was wir an Botschaften über Sexualität verinnerlicht haben, und was in uns zu belastenden Glaubenssätzen führt, über Bord werfen. 97 Prozent dessen, was wir über Sexualität vermittelt bekommen, hat möglicherweise nichts damit zu tun, was die eigene Sexualität ausmacht. Es lohnt sich deshalb, neugierig zu sein, und immer wieder zu hinterfragen: Passt das für mich? Trifft es auf mich wirklich zu? Fühle ich mich gut mit dieser Botschaft?

Ein Beispiel:

Zu den Botschaften über die angeblich unterschiedlichen Erregungskurven von Mann und Frau habe ich vor ein paar Jahren Umfragen gemacht. Ergebnis: 92 % aller Teilnehmenden gaben an, dass ihre Erregungskurve je nach Situation stark variiert. Die angeblichen Unterschiede zwischen Mann und Frau lösten sich dadurch völlig auf. Mit dieser Botschaft verknüpfte Glaubenssätze, die uns belasten und in Rollen zwängen, können wir also getrost loslassen. So werden wir offener dafür, zu schauen und zu fühlen. Wir sind aufmerksamer für uns selbst und unsere Partner.

Was uns dabei hilft…

ist konsequent dem zu folgen, was wir gerade fühlen und uns in Achtsamkeit für uns selbst und unser Gegenüber damit zu zeigen, was gerade ist. Den Kopf auszuschalten – auch eine oft gehörte Botschaft(!) – ist dafür übrigens nicht nötig. Der darf ruhig dabei sein. Und wenn mitten im schönsten Vorspiel ein Gefühl – Trauer, Sorgen, was auch immer – quer schießt, ist das völlig in Ordnung. Das Gefühl wird dann ausgesprochen und kann wieder gehen. Oder es ist gerade wichtig, und dann ist es richtig, dass es Raum bekommt. So machen wir die Erfahrung, dass wir mit dem, wie wir sind, angenommen und gesehen werden.
Meine Partnerin und ich haben uns bewusst Zeiträume organisiert, in denen wir einfach mit dem, was sich gerade zeigt, gemeinsam verbunden sind. „Erfüllende“ Sexualität ergibt sich von ganz alleine, indem wir eine „erfühlende“ Sexualität leben. Eine Sexualität, die entspannt genau dem folgt, wonach wir uns gerade fühlen. Und das ist manchmal wildes geiles sich durch die Decken wühlen. Manchmal haben wir aber auch gerade gar keine Lust auf viel Körperlichkeit: „Wollen wir in ein Café fahren und Milchkaffee trinken?“ Und dann lassen wir uns im Café zufrieden und glücklich in die Lehnen unserer Stühle sinken, schauen uns an, und wissen: Erfühlende Sexualität kann alles sein. Auch ein gemeinsamer Milchkaffee. Und beim nächsten Mal gibt´s wieder durchwühlte Decken. Oder ein Rollenspiel. Je nach dem, was sich gerade zeigt. Zu leben was unsere Bedürfnisse in gerade diesem Moment erfüllt: das ist erfüllend.

Artikel erstmals erschienen in: KGS Berlin, Ausgabe 10/2018
für diesen Blog überarbeitet am 09.08. 2019

2019-08-09T19:08:03+00:000 Kommentare

Wie offen können Antworten sein?

Wie offen können Antworten sein, wenn wir Menschen in Rollen befragen?

Soeben habe ich die Buchbesprechung zum neuen Buch von Sophie Passmann gelesen.
In Alte weiße Männer – ein Schlichtungsversuch unterhält sie sich mit Menschen, die sie in diese Kategorie einordnet. Der Artikel nennt dies „Ein Angebot an alte weiße Männer.

Foto: Pixabay.com – StockSnap

Dieses Buch könnte spannend sein. Ich werde es mal in meiner kleinen Buchhandlung bestellen. Mal sehen ob sich eine Vermutung bestätigt, die ich seit längerer Zeit hege:

Wenn Menschen in einer Rolle gefragt werden,

werden sie dann nicht innerhalb der Rolle antworten?
Wenn ich als Klavierbauer gefragt werde, antworte ich als Klavierbauer. Und meine Antworten werden mit Sicht auf diese Rolle ausgewertet.
Wenn ich als Therapeut gefragt werde, antworte ich entsprechend und meine Antworten werden entsprechend ausgewertet.
Wenn ich als Täter gefragt werde, ..
Wenn ich als Missbrauchsopfer gefragt werde …
usw …

Macht es einen Unterschied?

Macht es einen Unterschied, wenn ich frage:
Wie erlebst du Ungerechtigkeit?
im Gegensatz zu z.b.
Wie erlebst du als Arbeitgeber Ungerechtigkeit?

Ich könnte das beliebig fortsetzen:
Wie erlebst du deine Sexualität?
Im Gegensatz zu:
Wie erlebst du deine Sexualität als Mann /  als Frau /  als Intersexuelle*r?

Würden sich die Antworten unterscheiden?

Was bedeutet das dann im Hinblick auf ein Buch, das alte weiße Männer interviewt?
Werden sie als alte weiße Männer antworten?
Lassen beim Lesen ihre Antworten eine andere Sicht auf diese Rolle zu?
Ist es dann wirklich ein Angebot an alte weiße Männer? Ein Angebot zu was?

Ich bin gespannt und werde berichten.

2019-04-15T12:59:04+00:001 Kommentar