Alles fit im Schritt?

„ALLES FIT IM SCHRITT?“

(ich weiß nicht, ob es eine Triggerwarnung braucht. Hier steht nichts Schlimmes, aber es geht u.a. um männliche Sexualität und Pubertät. Ich wollte es nur gesagt haben …)

Als ich im Haus meiner verstorbenen Eltern mal geputzt hatte, damit wir es beim scheibchenweisen Haushaltauflösen einigermaßen schön haben, purzelten die Gedanken.
„Alles fit im Schritt?“ –
Das ist auch so ein fröhlich kumpeliger Begrüßungsspruch, der eigentlich so gar keine andere Antwort zulässt, als so ein humoriges:
„Höhö! Na klar!“
Weil irgendetwas anderes zu sagen ja gar nicht denkbar wäre!
Und – zumindest bei diesem Spruch – auch gar nicht gehört werden will.
Denn dann müssten wir ja dahin gehen, wo es nicht bloß ums „funktionieren“ geht: „Läuft alles.“ „Jaja, ich bin gut aufgestellt.“ „Alles prima!“

Nur nicht reden über irgendwas, was nicht zu „funktionieren“ passt. Nicht, dass ich noch mein Gesicht verliere!

Dabei gäbe es sooo viel zu erzählen.

In den letzten Jahrzehnten unserer Kultur haben Frauen damit begonnen, einander zu erzählen, sich zu zeigen mit Gedanken, Gefühlen, Verletzungen und ihrer Lust.
Ich würde mal sagen, da ist auch noch viel, viel Luft nach oben.
Bei den Frauen, aber erst recht bei den Männern!

Denn hinter:

„Alles fit im Schritt?“

„Höhö, na klar!“

stecken so, so, so viele berührende, lebendige, schmerzhafte aber auch ermutigende und freudvolle Geschichten!

So fiel mir heute beim Putzen unseres alten Badezimmers zum Beispiel das erste Mal ein, als ich einen Samenerguss hatte.

Während eines heißen Sommers

– da war ich knapp 12 – hatte ich es mir auf den kalten schwarzen Fliesen schön gemacht, als es passierte.
Und mein erster Gedanke war eben nicht: „Ja. Jetzt bist Du ein Mann! Das ist ein Grund zum Feiern!“
Mein erster Gedanke war: „Aha: Pollution!“
Pollution, das hatte ich schon in der vierten Klasse im Aufklärungsunterricht gelernt, nannte man den ersten Samenerguß. Und alle weiteren unbeabsichtlichen Samenergüsse auch.
Aus meinem Englischunterricht in der 5. und 6. Klasse wusste ich inzwischen auch, was „pollution“ bedeutet: Verschmutzung, Umweltverschmutzung.
Die Herkunft des deutschen sexualmedizinischen Wortes Pollution kommt vom lateinischen polluere: beflecken, beschmutzen, verunreinigen
Tja, und genau das war mein jugendlicher Gedanke:

„Och nöö! Jetzt muss ich das jedesmal, wenn ich einen Orgasmus habe, wegmachen.“

Freude am eigenen Körper wird uns in dieser Kultur echt nicht leicht gemacht!

Als Frauen ebenso wie als Männer wurden und werden wir beschämt für unsere Freude, unsere Lust und für das, was – oft in Momenten der Freude – ganz natürlich aus uns raus kommt.
Unsere Genitalien hüten so viele unerhörte Geschichten, die uns bis heute begrenzen. Worüber wir sprechen können, das kann sich verändern und Freiräume schaffen …
Darum finde ich, es ist wichtig, dass wir damit beginnen, mehr von uns zu erzählen. Als Frauen, und ja: vielleicht ganz besonders als Männer.
Denn solange wir „Alles fit im Schritt?“ weiterhin mit
„Höhö, na klar!“ beantworten, und unsere Geschichten weiterhin beschämt in die hintersten Ecken unserer Schweigsamkeit verdrängen, hören wir nicht auf, uns für uns selbst zu schämen.
Und das wäre verdammt schade.

Denn wir Menschen sind, bei Licht betrachtet und in unserem Wesen gewürdigt, wunderschön!

MÄNNLICHE SEXUALITÄT – WAS IST DAS EIGENTLICH?

Herzliche Einladung an uns Männer!
Austauschrunde online am
Samstag, 16. September 2023, 11 Uhr bis 12:30 Uhr
Unkosten-Beitrag 15 €
Für den Zoom-Link schreib mir eine E-Mail an
eilertbartels (at) arcor.de
2023-08-31T15:24:16+00:000 Kommentare

Was ist eigentlich eine „männliche Sicht“ auf Sexualität?

Was ist eigentlich eine „männliche Sicht“ auf Sexualität?

Was ist eigentlich eine „männliche Sicht“ auf Sexualität?
Vermeintlich wohl nichts, das gute Erfahrungen möglich macht. So zumindest klang es in den einleitenden Sätzen in der insgesamt sehr gelungenen Sendung „Scobel – Sex als Ressource“ vom 10. Juni 2021
https://www.3sat.de/wissen/scobel/scobel—sex-als-ressource-100.html

Weil ich das so nicht stehen lassen konnte, hatte ich schließlich eine E-Mail an 3Sat und Herrn Scobel geschrieben. Eine Antwort habe ich nie bekommen. Aber ich meine, dass es sich für uns alle lohnt, dieser Frage nachzugehen. Gerade damit wir künftig mehr und mehr gute Erfahrungen mit Sexualitäten aus männlicher Sicht machen können!

Deshalb hier noch einmal meine oben erwähnte E-Mail vom 18. November 2021 zum Nachlesen:

Betreff: Scobel – Sex als Ressource, Sendung vom 10.06.2021

Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrter Herr Scobel,

die Sendung ist zwar schon vor fast einem halben Jahr gelaufen, aber ich finde erst jetzt – nach Fertigstellung meines dritten Buches – Zeit, Sie anzuschreiben, weil mir die ersten zwei einleitenden Sätze der Sendung „Sex als Ressource“ wie Widerhaken stecken geblieben sind.

Vorweg möchte ich betonen, dass ich diese Sendung insgesamt sehr gelungen fand, und sich damit sicher für viele Menschen sicherlich erweiternde Perspektiven auf menschliche Sexualität aufgetan haben. Dafür meinen persönlichen und fachlichen Dank.

Vielleicht gerade deshalb bin ich über die beiden einleitenden Sätze gestolpert, die so schnell vorbei waren, dass sie mir fast entgangen wären, hätten sie nicht Schmerz in mir ausgelöst:

„Die Anpassung an die meist aus männlicher Sicht vorgegebenen Norm wäre in der Tat für die Entwicklung individueller Sexualität ein Rückschritt. Besser ist es, selber für sich gute Normen zu entwickeln. um gute Erfahrungen zu haben.“

Screenshot der Sendung

Screenshot der Sendung „Scobel – Sex als Ressource“

Nun, ich beschäftige mich seit Jahrzehnten mit den Zuschreibungen, Rollenzuweisungen und Botschaften, die uns vorgegeben werden und uns in unserer individuellen Entfaltung beeinflussen.
Dies bedeutet für mich auch, zu hinterfragen, welche Zuschreibungen und Botschaften wir in Bezug auf jedes der Geschlechter haben. Seit 2014 gehe ich diesen Fragen auch beruflich nach. Aus dieser Perspektive heraus – und weil dieser Satz so selbstverständlich beiläufig die Sendung einleitete – sehe ich es als meine berufliche Aufgabe an, einmal genau nachzufragen.

Was genau ist mit „aus männlicher Sicht vorgegeben“ gemeint?

Was genau soll eine „männliche Sicht“ überhaupt sein? Kennen wir diese „männliche Sicht“ überhaupt? Kennen wir sie wirklich? Oder folgen wir hier einmal mehr lediglich einer vorgegebenen Normierung, die uns selbstverständlich glauben lässt, dass „männliche Sicht“ und „Entwicklung individueller Sexualität“ ein Gegensatzpaar seien, und zudem so klar und allgemeingültig, dass es gar nicht lohnt, sie einmal zu hinterfragen?

Ich will mir die beiden Sätze noch einmal auf der Zunge zergehen lassen:
„Die Anpassung an die meist aus männlicher Sicht vorgegebenen Norm wäre in der Tat für die Entwicklung individueller Sexualität ein Rückschritt. Besser ist es, selber für sich gute Normen zu entwickeln. um gute Erfahrungen zu haben.“

Nun, ich bin ein Mann. 

Ergo betrachte ich Sexualität aus einer männlichen Sicht. Laut diesen beiden Sätzen wäre mir als männlichem Menschen mit eben meiner männlichen Sicht auf Sexualität schlicht nicht möglich, überhaupt für mich selber gute Normen zu entwickeln, um gute Erfahrungen zu haben. Müsste ich dementsprechend meine männliche Sicht offenbar erst ablegen?

Wollen wir das wirklich so stehen lassen? Perpetuieren wir damit nicht Botschaften, die Menschen beibringen, dass – wie Volker Ellis Pilgrim in den 1970ern schrieb –

„Der Mann […] sozial und sexuell ein Idiot“ sei? 

Welchen Bärendienst erweisen wir damit Männern, Frauen und überhaupt Menschen, wenn wir an einem Bild der Mangelhaftigkeit männlicher Sexualität festhalten?

Wäre es nicht besser, dieses Bild infrage zu stellen,

damit männliche Menschen nicht mehr auf eine angeblich „aus männlicher Sicht vorgegebenen Norm“ festgenagelt werden, und sie endlich für sich selber gute Normen entwickeln können?

Unter anderem aus solchen Fragen heraus habe ich in meinem vorletzen Buchprojekt 16 Männer in ganzheitlichen Interviews zu ihrem Erleben beim Sex befragt. Gerade habe ich das nächste Buchprojekt abgeschlossen, in dem ich auch 16 Frauen in ganzheitlichen Interviews zu ihrem Erleben beim Sex befragt habe. 

Bei all diesen Interviews war es mir wichtig, den 16 Männern und 16 Frauen nicht in ihrer Rolle „als Mann“, „als Frau“ zu begegnen. Denn es macht einen Unterschied, ob ich einen Menschen frage: „Wie erlebst Du als Mann/als Frau deine Sexualität?“ oder ob ich frage: „Wie erlebst Du Deine Sexualität?“ 

Aus diesen 32 Gesprächen ebenso wie aus Gesprächen mit vielen meiner Klientinnen und Klienten kann ich beim besten Willen nicht schließen, dass die Sicht männlicher Menschen auf Sexualität weniger individuell wäre als die weiblicher Menschen. 

Vielmehr profitieren sowohl Männer als auch Frauen in der Entwicklung ihrer individuellen Sexualität, wenn WIR gesellschaftlich aufhören, Ihnen Normen vorzugeben und Ihnen überhaupt erst einmal Raum eröffnen, für sich selber gute Normen zu entwickeln, um gute Erfahrungen zu machen. 

Deshalb noch einmal meine Frage zu den beiden oben zitierten Sätzen: 

Was genau ist mit „aus männlicher Sicht vorgegeben“ gemeint? Was genau soll eine „männliche Sicht“ überhaupt sein? Kennen wir diese „männliche Sicht“ überhaupt? Kennen wir sie wirklich? Oder folgen wir hier einmal mehr lediglich einer vorgegebenen Normierung, die uns selbstverständlich glauben lässt, dass „männliche Sicht“ und „Entwicklung individueller Sexualität“ ein Gegensatzpaar seien, und zudem so klar und allgemeingültig, dass es gar nicht lohnt, sie einmal zu hinterfragen?

Ich würde den Menschen wünschen, dass wir gesellschaftlich darüber ins Gespräch kommen!

Mit freundlichen Grüßen

Eilert Bartels

2023-08-26T18:28:26+00:000 Kommentare

Warum wir aufhören sollten, unsere Kinder zu „erziehen“

Warum wir aufhören sollten, unsere Kinder zu „erziehen“

Immer mal wieder begegnen mir in den letzten Jahren in den sozialen Medien Bilder mit einem durchgestrichenen

Protect your daugthers„, und darunter:

„educate, your sons“

Und ich habe auch schon ein paar mal mit eigenen Posts darauf reagiert, in denen ich schrieb:

„Ich finde, wir sollten das Gegenteil tun:

Wir sollten aufhören, unsere Söhne zu erziehen.
Wir sollten aufhören, unseren Söhnen beizubringen, dass „Indianer nicht weinen“.
Wir sollten aufhören, ihnen beizubringen, dass ihre Leistung wichtiger sei als das, was sie fühlen.
Wir sollten aufhören, ihnen beizubringen, dass sie stark sein müssen, um ein richtiger Mann zu sein.
Wir sollten aufhören, ihnen beizubringen, dass sie ein Problem seien, weil sie Jungs/Männer sind.
wir sollten aufhören, ihnen beizubringen, dass sie eine Frau erobern müssen.
Wir sollten aufhören, ihnen beizubringen, dass sie zwar Mädchen/Frauen nicht schlagen dürfen, aber selbst Schläge von Mädchen/Frauen hinzunehmen haben.
Wir sollten aufhören, ohne ihre ausdrückliche und volljährige Einwilligung ihre Genitalien zu verstümmeln und das als Kleinigkeit abzutun.
Wir sollten aufhören, ihnen beizubringen, dass sie weniger Empathie benötigen als unsere Töchter.

Wenn wir aufhören, unsere Söhne derart zu erziehen, ist das der beste Schutz, den unsere Töchter bekommen könnten: Jungen, die Empathie erleben durften.
Weil wir als Kinder Empathie am eigenen Leib, an eigener Seele erleben müssen, um unsere Empathie entfalten zu können und als Erwachsene mittfühlend sein zu können.

Hören wir endlich auf, unsere Söhne zu erziehen! Damit sie die mitfühlenden Wesen bleiben dürfen, als die sie auf die Welt kommen.“

Bild einer Mauer mit Graffity darauf, die teilweise durchgestrichen und mit Worten ergänzt wurde. Statt

Was ist eigentlich mit „Erziehen“ gemeint?

Nun gibt es immer wieder Menschen, die aber offenbar Sorge haben, dass die Welt, mindestens aber das Abendland unterginge, wenn wir unsere Söhne nicht mehr erziehen. Zumindest aber gibt es offenbar Klärungsbedarf, was mit „erziehen“ gemeint sein soll.

Eigentlich geht aus meinem obigen Text das ja schon relativ klar hervor, was ich damit meine. Nun schrieb mir aber ein Mensch in einem Kommentar:

„Lieber Eilert, es kommt darauf an, wie man „protect“ und „educate“ versteht.

Dieses Bild bezieht sich darauf, dass Töchter durch Verbote geschützt werden sollen. „Sei vor der Dunkelheit zu Hause“, „tu dies nicht und jenes nicht“ – während die Söhne NICHT dazu erzogen werden, Mädchen/Frauen zu respektieren. Deshalb nützen auch all diese Verbote nichts, die als Schutzmaßnahmen betrachtet werden.

Das Bild kann man so interpretieren: Erzieh deinen Sohn so, dass er mit Mädchen/Frauen/Menschen respektvoll und friedlich umgeht.

Oder anders ausgedrückt: In Fällen männlicher Gewalt gegen weibliche Menschen sollte der Anspruch auf Änderung an die Täter gerichtet werden.

(Im umgekehrten Fall natürlich genauso) 

Man kann deine Punkte insofern auch positiv formulieren::
Wir sollten unsere Söhne friedlich erziehen.
Wir sollten unseren Söhnen beizubringen, dass Indianer sehr wohl weinen.
Wir sollten ihnen beibringen, dass ihre Leistung nicht wichtiger ist als das, was sie fühlen.
Wir sollten ihnen beibringen, dass sie nicht immer stark sein müssen, um ein richtiger Mann zu sein, sondern auch schwach sein dürfen
Wir sollten ihnen beibringen, dass sie Menschen sind – mit allem Potential, das das beinhaltet.
Wir sollten ihnen beizubringen, dass Konflikte ohne Schläge gelöst werden können und sollten.
Wir sollten aufhören, ohne ihre ausdrückliche und volljährige Einwilligung ihre Genitalien zu verstümmeln und das als Kleinigkeit abzutun.
Wir sollten ihnen beibringen, dass sie genausoviel Empathie benötigen wie unsere Töchter.

Was meinst du zu dieser Interpretation? „

Vielen Dank für die Gelegenheit zur Reflektion. Ich möchte meine Antwort auch für diesen Blogbeitrag festhalten:

Ich bedanke mich für die Zusammenfassung, worauf sich dieses Bild bezieht. Denn ich sehe ein Problem darin. Es enthält nach meiner Wahrnehmung die Vorannahme, dass Männer Täter und Frauen Opfer von Gewalt werden, wenn Jungen nicht erzogen werden.

Vorab aber möchte ich eingehen auf den Satz
In Fällen männlicher Gewalt gegen weibliche Menschen sollte der Anspruch auf Änderung an die Täter gerichtet werden.“

Ich stimme dem zu, aber genau das passiert mit „protect your daughters – educate your sons“ eben NICHT. Denn damit wird der Anspruch auf Änderung nicht an die Täter, sondern an nachfolgende Generationen, an unschuldige Kinder weitergegeben.

Und das bereitet – ich kann es nicht anders sagen, einen Nährboden für fortgesetzte Gewalt.

Das Problem mit geschlechtsbezogenen Vorannahmen

Diese Vorannahme ist aus meiner Sicht jedoch selbst schon gewaltsam, weil sie Mädchen die Fähigkeit abspricht, sich selbst schützen zu können und Jungen unterstellt, übergriffig zu werden, wenn man ihnen keine Zügel anlegt.
Diese Vorannahme entsteht, soweit ich es erkenne, daraus, dass eben viel Gewalt von Männern an Frauen beobachtet wird. Aus dieser Beobachtung heraus jedoch den Schluss zu ziehen, dass Jungen, wenn sie nicht erzogen würden, natürlicherweise gewalttätig gegen Mädchen und Frauen würden, bleibt mir nicht nur zu sehr an der Oberfläche, sondern das halte ich im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung für einen Gewalt begünstigenden Faktor.

(Vor allem gerät dabei leider aus dem Blick, dass Gewalt dahin fließt, wo ein Machtgefälle besteht. Das Geschlecht allein ist keine hinreichende Kategorie dafür, ob ein Machtgefälle vorliegt. Zugleich besteht definitiv ein Machtgefälle dort, wo Erwachsene Kinder erziehen!)

Deswegen finde ich das Ansinnen, die Botschaft hinter „Protect your daugthers – educate, your sons“ positiv zu formulieren,
zwar gut gemeint, aber immer noch nicht gut gemacht.

Warum wir aufhören sollten, unsere Söhne zu erziehen

Aber lasst uns die Sätze einmal durchgehen:

Wir sollten unsere Söhne friedlich erziehen.“

Gerald Hüther erinnert in seinen Vorträgen immer wieder daran, dass Gärtner bei Spalierobstbäumen von „erziehen“ sprechen.
Das heißt, da wird unter gewaltsamer Einwirkung Wachstum in eine gewünschte Richtung gebunden, statt dass Bäume sich in ihrem Wachstum natürlich entfalten dürfen.
Das dient dem Gärtner, der dann eine bequeme Ernte hat, aber nicht dem Baum, der wachsen will.
In diesem Sinne gibt es eigentlich keine friedliche Erziehung. Ich glaube aber, wenn es uns gelingt, Jungen und Mädchen, also alle Kinder in ihrem Wachstum gut zu begleiten, dass sie weitaus friedlichere Menschen werden, als wenn wir ihr natürliches Wachstum zu lenken gedenken. Zugleich werden sie eine gesunde Wehrhaftigkeit enfalten können, weil sie von Anfang an lernen können, dass sie in Ordnung sind, wie sie sind.

Anhand der im oben zitierten Kommentar vorgeschlagenen Sätze wird mir deutlich, wie verdreht der Gedanke an „Erziehung zum erwünschten Verhalten hin“ sich für mich anfühlt:

Wir sollten unseren Söhnen beizubringen, dass Indianer sehr wohl weinen.“

Kinder weinen natürlicherweise von sich aus, wenn sie es brauchen, gesehen zu werden. Das müssen sie nicht beigebracht bekommen. Auch als männliche Kinder müssen sie das nicht beigebracht bekommen. Es reicht, dass sie weinen dürfen.

Wir sollten ihnen beibringen, dass ihre Leistung nicht wichtiger ist als das, was sie fühlen.“

Fühlen müssen wir ihnen auch nicht beibringen. Der Leistungsgedanke ist doch etwas, was erst durch uns Erwachsene in Kinder hineingebracht wird. Natürlicherweise folgen Kinder ihrer Freude – wenn man sie lässt …

Wir sollten ihnen beibringen, dass sie nicht immer stark sein müssen, um ein richtiger Mann zu sein, sondern auch schwach sein dürfen.

Auch hier: es reicht völlig, es ihnen zu erlauben, und das selbst vorzuleben. Dazu braucht es allerdings Väter, Brüder, Freunde die es sich zurückgeholt haben, auch schwach sein zu dürfen. Davon Profitieren übrigens auch unsere Töchter, weil sie erleben dürfen, dass sie nicht schwächer sind als Jungen.

Wir sollten ihnen beibringen, dass sie Menschen sind – mit allem Potential, das das beinhaltet.“

Für Kinder ist das ihr natürlicher Seinszustand. Wir sollten gerade in dieser Hinsicht im Gegenteil vielmehr von ihnen lernen. Sie sind gerade in diesem Bereich die besten Lehrmeisterinnen und Lehrmeister, die wir uns wünschen könnten!

Wir sollten ihnen beizubringen, dass Konflikte ohne Schläge gelöst werden können und sollten.“

Am allerbesten leben wir das vor. Und zwar nicht nur in Bezug auf körperliche Schläge, sondern auch in Bezug auf verbale Schläge. Das nur Jungen beizubringen, aber nicht Mädchen, halte ich allerdings für gewaltbegünstigend, weil das nach meinem Empfinden der oben genannten – an sich schon gewaltvollen – Vorannahme folgt.

Und ich habe ein Fragezeichen bei obigem letzten Satz:

Denn Kinder entwickeln, zumindest nach meiner Erfahrung, wenn sie in ihrer Entfaltung friedlich begleitet werden, ein gesundes Gefühl für die eigenen Grenzen und die eigene Wehrhaftigkeit. Das als Kind entwickeln zu können, ist wichtig. Ist dieses Gefühl entwickelt, können Kinder ihre Grenzen viel leichter kommunizieren, ehe es überhaupt zu Gewalt kommt.
Dieses Gefühl für die eigenen Grenzen und die eigene Wherhaftigkeit nicht entwickeln zu können, führt aus meiner Sicht tendenziell dazu, dass (aberzogene und deshalb nicht mehr gesunde) Wehrhaftigkeit viel häufiger in Gewalt umschlägt – gegen sich selbst, oder eben gegen andere. Gerade hier ist mir durch das Frauenbuch klar geworden, wie unfassbar viel Gewalt auch sich Frauen in unserer Kultur selbst antun müssen, einfach dadurch, dass ihnen eine natürliche Wehrhaftigkeit aberzogen wurde.

Wir sollten aufhören, ohne ihre ausdrückliche und volljährige Einwilligung ihre Genitalien zu verstümmeln und das als Kleinigkeit abzutun.“

Das hast Du ja wortwörtlich von mir übernommen. Ja. Und das gilt für alle Kinder. Mädchen sind zwar diesbezüglich durch die Menschenrechts-Charta geschützt, aber dieser Schutz steht auf sehr dünnem Eis, solange Jungen an dieser Stelle Menschenrechte verwehrt bleiben. Übrigens ist Genitalverstümmelung ein tragischer und massiver Nährboden für die Unterdrückung von Lebendigkeit und Gefühlen.

Wir sollten ihnen beibringen, dass sie genausoviel Empathie benötigen wie unsere Töchter.“

Müssen wir ihnen das beibringen? Wir müssen es doch einfach nur TUN: allen Kindern mit der gleichen Empathie begegnen.

Ich komme zu dem Fazit, dass ich erstens bei meinen Formulierungen bleiben möchte, und zweitens, sie Ergänzen möchte:

Wir sollten auch aufhören unsere Töchter zu erziehen!

Wir sollten aufhören, unseren Töchtern beizubringen, dass sie sich nicht wehren können.
Wir sollten aufhören, unseren Töchtern beizubringen, dass Lächeln ihre beste Option ist, sich zu schützen.
Wir sollten aufhören, ihnen beizubringen, dass ihre Leistung wichtiger sei als das, was sie fühlen.
Wir sollten aufhören, ihnen beizubringen, dass sie zart sein müssen, um eine richtige Frau zu sein.
Wir sollten aufhören, ihnen beizubringen, dass sie ein Opfer seien, weil sie Mädchen/Frauen sind.
Wir sollten aufhören, ihnen beizubringen, ihre eigene Sexualität geringzuschätzen.
Wir sollten aufhören, ihnen beizubringen, dass sie Schläge von wem auch immer hinzunehmen haben. Das gilt für alle Kinder.
Wir sollten aufhören ihnen beizubringen, dass Jungen Schläge von Mädchen hinzunehmen haben.
Wir sollten aufhören, ohne ihre ausdrückliche und volljährige Einwilligung ihre Genitalien zu verstümmeln und das als Kleinigkeit abzutun.
Wir sollten aufhören, ihnen beizubringen, dass sie mehr Empathie benötigen als unsere Söhne.

Ich danke der Kommentatorin für den Impuls zur Reflektion und zum Weiterdenken.

Bild einer Mauer mit Graffity darauf, die mehrfach durchgestrichen und mit Worten ergänzt wurde. Statt

Dieser Artikel wurde erstmals von mir am 4. Oktober 2022 auf facebook veröffentlicht und am 13. Juni 2023 für diesen Blog redigiert.

2023-06-13T14:30:55+00:000 Kommentare

Räume bewusst gestalten

Räume bewusst gestalten

Die Corona-Krise fordert uns alle

auf eine für viele Menschen neue Weise heraus.

Das gilt besonders auch für Paare. In Zeiten von Homeoffice und Ausgangsbeschränkungen wird nun noch wichtiger, was von jeher für unsere Praxis Beziehungsperspektive Leitgedanke ist:

„Stabile, erfüllende Paarbeziehungen setzen eine gute Beziehung zu sich selbst voraus.“

Den eigenen Raum wahrnehmen und würdigen zu lernen, ist nicht nur dafür wichtig, um sich abgrenzen zu können, sondern ganz besonders auch, um bewußte gemeinsame Räume der Begegnung miteinander gestalten zu können.
Das gilt umso mehr derzeit, wo wir wegen Corona und der Ausgangsbeschränkungen „aufeinander hocken“.
Vielleicht ist aber auch gerade jetzt die Chance gut, mit- und aneinander zu wachsen!

Es mag sein, dass viele Paare sich im Moment, oder sowieso schon länger, so aneinander gebunden fühlen wie die beiden Tassen oben im Bild. Sich bewusst zu machen, dass Sie – auch, wenn Sie sich gebunden haben – ganz und eigenständig sind, so wie jede der beiden Tassen im Bild, gibt Ihnen die Möglichkeit, sowohl Freiräume für den Einzelnen als auch gemeinsame Räume des Miteinanders zu gestalten.
Die Corona-Krise ist eine Herausforderung, aber auch eine Chance, dies für sich und miteinander zu lernen.

Wir haben uns in unserer Praxis dazu ein paar Gedanken gemacht, die wir Ihnen hier gern als unterstützende Anregungen anbieten.

Das Wichtigste zuerst:
Machen Sie sich klar, dass es überall, wo Menschen zusammenleben, sowohl Raum für jede und jeden Einzelnen braucht, als auch so etwas wie Räume des gemeinsamen Erlebens.

Ohne Grenzen kein Raum.

Völlig klar: schon unser Körper definiert sich über seine Grenzen. Unsere Haut bildet ganz natürlich eine Begrenzung unseres Körpers. Ohne Begrenzung würden wir unsere Gestalt und unser Gefühl für uns selbst verlieren. Wenn wir z.B. in einem Auto sitzen, sind wir darüber hinaus sogar in der Lage, „unseren Raum“ bis zu den Grenzen der Autokarosserie auszuweiten.
Und wir reagieren verständlicherweise empfindlich, wenn jemand die Grenzen gegen unseren Willen übertritt, etwa, wenn uns jemand in den Kofferraum fährt, oder auch nur beim Spurwechsel zu nahe kommt. Gleichwohl freuen wir uns vielleicht auch, wenn wir nicht alleine Auto fahren, sondern einen freundlichen Menschen zur Mitfahrt in unseren Raum einladen können.

An diesem Beispiel wird klar:

Es braucht Grenzen

Sie sind ein ganz eigener Mensch. Ein Mensch mit eigenen Grenzen, aus denen heraus Sie Ihren eigenen Raum gestalten, den sie für sich alleine haben, aber in den Sie auch andere Menschen einladen können, wenn Sie möchten. Und erst das Bewusstsein für Ihren eigenen Raum macht es möglich, zu unterscheiden zwischen

„Dies hier ist mein eigener Raum“

und
„Das ist unser gemeinsamer Raum.“

Diese Unterscheidung ist wichtig!
Denn ohne ein klares Gefühl für den eigenen Raum lassen sich auch willkommene gemeinsame Räume nicht gestalten!
Um beim Autovergleich zu bleiben:
Dann spüren wir nicht mehr klar, ob mein Gegenüber gerade unwillkommen in meinem Kofferraum ist oder freundlich eingeladen als mein Mitfahrer auf dem Sitz neben mir in meinem Raum ist.

Räume gestalten

Wenn wir bezogen auf Beziehungen von Räumen sprechen, so meinen wir damit:

  • innere Räume, also sinnbildliche Räume, z.B. sind Sie ein eigener individueller Mensch mit ganz eigenen Gedanken, Bedürfnissen und Wegen, diesen zu folgen.
  • äußere Räume, also die reale Umgebung: z.B. die Zimmer der gemeinsamen Wohnung, oder auch nur ein Bereich innerhalb eines Zimmers, z.B. ein Arbeitsplatz, ein Lesesessel, …und auch
  • Zeiträume, innerhalb dessen innere und äußere – eigene und gemeinsame -Räume gestaltet werden.

Fangen Sie also am Besten damit an, sich Ihren eigenen Raum bewusst zu machen.

Gestaltung des inneren Raums

Nehmen Sie sich hierfür doch einmal ein Stündchen Zeit für sich.
Legen Sie sich einen Stift und ein Blatt Papier zur Hand und schreiben auf, was Ihnen dazu einfällt: Wenn Sie auf Ihre eigenen Bedürfnisse blicken, auf das, was Sie gerne tun, was Ihnen wichtig ist, was sie allein tuen wollen oder auch müssen, und worüber sie sich freuen, es in Gemeinschaft zu machen.
Solch eine Liste kann dann z.B. so aussehen:

  • Arbeiten (muss ja schließlich sein)
    ein Buch lesen
  • Yoga
  • essen
  • schlafen
  • einfach chillen und niemanden sehen und hören
  • mich abreagieren, wenn ich wütend bin
  • spazieren gehen (zu zweit)
  • joggen (allein)
  • Duschen, Baden
  • Sex haben (mit mir allein)
  • Sex haben (gemeinsam)
  • heimwerken
  • Musik machen
  • mit Freunden telefonieren
  • Social Media
  • am PC gamen

Was auch immer Ihren persönlichen Bedürfnissen und Wichtigkeiten entspricht: schreiben Sie es auf.
Sie sehen schon: wenn man einmal bewusst darüber nachdenkt, ergibt sich fast von selbst, wo sie gern Zeit und Raum für sich alleine haben möchten, und wo Sie sich über gemeinsame Zeit und gemeinsamen Raum freuen.

Nun haben Sie schon eine gute Grundlage für die

Gestaltung des äußeren Raumes:

Zeichnen Sie doch einmal den Grundriss der gemeinsamen Wohnung auf.
Was erleben Sie in den verschiedenen Bereichen Ihrer Wohnung?
Nehmen sie verschiedenfarbige Stifte zu Hand und tragen in die Grundrisszeichnung ein:
Wo in der Wohnung ist für Sie „mein“ Bereich? Die Ecke, das Zimmer, wo Sie sagen können: „Ja, hier fühle ich mich wohl und sicher.“ Oder auch: „Hier kann ich zur Ruhe kommen.“ Oder auch: „Hier mag ich es, wenn wir uns begegnen.“ Oder: „Hier komme ich richtig in Aktion.“ Was auch immer Ihren Bedürfnissen nach eigenem Raum entspricht.
Möglicherweise gibt es eine Ecke, ein Bereich oder ein Zimmer, wo sie gerne sagen:
„Hier funkt mir keiner rein! Hier darf nur ich verändern und gestalten.“ Oder ist Ihnen das vielleicht gar nicht so wichtig? Spüren sie da ruhig einmal hin, wie es wirklich ist!

Je nachdem, ob sie über eine große Wohnung, ein großes Haus mit vielen Zimmern verfügen, oder ob Sie sich eine kleine Einzimmerwohnung teilen, können nun ganze Zimmer, vielleicht aber auch einfach ein Bord eines Regals und Ihr Lieblingsstuhl „Ihr Raum“ sein, in dem Sie bestimmte Dinge gern erleben oder tuen.

In der Krise, aber auch sonst im Alltag:

Gestalten Sie sich Zeiträume, um miteinander zu sprechen,

und zwar über wesen-tliches: Über das, was Ihren inneren Raum ausmacht. Ihre Bedürfnisse, Wünsche, Visionen, Ängste.
Vielleicht lösen sich darüber ja sogar langjährige Missverständnisse auf.
(Denken Sie nur an die obere Brötchenhälfte, die wir so oft dem Partner überlassen, weil wir denken, er oder sie möge diese lieber als die untere Brötchenhälfte!)

Tauschen Sie sich mit Ihrem Partner über Ihre jeweiligen Raumbedürfnisse aus. Vielleicht gibt es Überschneidungen oder Raumkonflikte? Wie lassen sich diese lösen?
Welche Ideen lassen sich entwickeln? Vielleicht lässt sich z.B. die Nutzung des Regals im Wohnzimmer anders aufteilen? Und vielleicht lassen sich Zeiträume vereinbaren, in denen derselbe Bereich einmal „mein“ Raum und einmal „dein“ Raum ist?
Wie andere Räume auch, haben Zeiträume eine Begrenzung, einen Anfang und ein Ende.

Vielleicht kann Sie dies dabei unterstützen, gut durch die Corona-Krise und die viele Zeit zuhause zu bringen.

Sorgen Sie gut für sich,

indem Sie sich selbst die Freiheit verschaffen, Ihren eigenen Raum zu gestalten.
Dadurch kann es auch im partnerschaftlichen Miteinander leichter fallen,
auch dem Anderen diese Freiheit einzuräumen.
Und gleichzeitig wissen Sie vielleicht besser, was Sie gerne bewusst gemeinsam miteinander erleben wollen.

Und das ist nicht nur in Zeiten von Corona wichtig.
Aber warum sollten Sie diese besondere Zeit nicht auch dafür verwenden, sich das für die Partnerschaft bewusst zu machen?


Für Sie da

Wir sind zur Zeit via Skype und telefonisch gern für Sie da, wenn wir Sie unterstützen können, die Krise möglichst gut für sich und ihre Partnerschaft zu nutzen.
Für Termine erreichen Sie uns wie gewohnt per E-mail über kontakt@beziehungsperspektive.de
oder per Telefon 030 / 757 08 434 .

Kommen Sie gut durch die nächsten Wochen und vor allem:  Bleiben Sie gesund!

Ihre Praxis Beziehungsperspektive

Judika und Eilert Bartels

2020-03-29T14:00:18+00:000 Kommentare

Erfüllende Sexualität – Raus aus dem Druck!

Erfüllende Sexualität – Raus aus dem Druck
Wenn ein Milchkaffee erfüllende Sexualität sein kann


Foto: ulleo / Pixabay

Eine erfüllende Sexualität

Wer wünscht sich das nicht? „Eine erfüllende Sexualität ist es, wenn zwei Menschen danach erschöpft, glücklich und zufrieden in ihre Kissen sinken.“ meldete sich spontan eine Frau mit leuchtenden Augen, als meine Partnerin und ich in einem Gesprächskreis zum Thema „Meine Sexualität“ danach fragten, was eine „erfüllende“ Sexualität eigentlich sei. Dann hielt sie einen Moment inne und das Leuchten in ihren Augen verlosch, ehe sie zögerlich sprach: „Aber dahin zu kommen, das ist die große Schwierigkeit.“ Es scheint also, als müssten wir erst mal Anstrengungen auf uns nehmen, um schließlich zum Ziel zu kommen.

Was eine erfüllende Sexualität sei,

und welche Bedingungen dafür erfüllt werden müssen, das vermitteln uns auch Illustrierte, Film und Fernsehen. Filmpaare mit perfekten Körpern setzen uns Bilder in den Kopf. Zeitschriften und Magazine legen nach: „7 Tricks, wie du sie ins Bett kriegst.“ „10 Tipps, wie er dich sexy findet“, usw. Wir alle sind bis zum Rand vollgestopft mit unzähligen Botschaften über unsere Sexualität, unsere Lust und unsere Körper. Wir haben Vorstellungen und Bilder verinnerlicht, wie unser Sex sein sollte, oder auch darüber, wie es doch tatsächlich sei. „Er muss es ihr besorgen können.“, „Sie braucht ein langes Vorspiel.“, „Männer wollen nur das Eine.“, „Sie muss sexy sein.“, „Die erogenen Zonen der Frau sind nicht leicht zu finden.“ „In langen Partnerschaften schwindet auf Dauer die Lust aufeinander.“ und so weiter. Das Problem ist: Bei so vielen Botschaften und Bildern schwindet auch die Lust auf Sex. Eine „erfüllende“ Sexualität scheint nicht so einfach zu sein.

Wie eine Aufgabe,

die es – nun ja – eben zu erfüllen gilt. Oder zumindest wie ein lang gehegter Wunsch nach etwas, vor dessen Erfüllung erst bestimmte Bedingungen erreicht werden müssen. Wer jemals als Kind sein Taschengeld über viele Monate gespart hat, um sich einen großen Wunsch zu erfüllen, wer jemals eine Woche brav sein musste, damit man am Wochenende mit ins Kino durfte, kennt das. Es ist das Gefühl, Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen und Bedingungen „erfüllen“ zu müssen, um ein Ziel zu erreichen. Und genau das ist es, was einer „erfüllenden“ Sexualität dann im Wege steht: Wie will ich erschöpft, glücklich und zufrieden in mein Kissen sinken, wenn mir nicht bereits das, was davor passiert, Freude und Erfüllung bereitet?

Es lohnt sich also,

sich aus der Vorstellung, etwas erfüllen zu müssen, zu verabschieden. Worum geht es uns eigentlich, wenn wir miteinander Sex haben wollen? In unserer Praxis fragen wir die Menschen gelegentlich danach: „Was ist es, was eine gemeinsam gelebte Sexualität für dich wertvoll macht?“ Eine junge Frau hat das neulich wunderbar zusammengefasst: „Vom Alltag abschalten zu dürfen und endlich nicht mehr funktionieren zu müssen. So sein zu dürfen, wie ich bin und mich dabei angenommen und geborgen zu fühlen – mich gesehen zu fühlen.“
Das befriedigt elementare Grundbedürfnisse des Menschen. Mit dem Erfüllen von Rollen ist das nicht vereinbar. Da kann ich noch so sehr versuchen, die Rolle des tollen Lovers oder der sinnlichen Geliebten zu erfüllen: Wenn ich das jetzt, in diesem Moment nicht bin und nicht fühle, kann ich mich auch nicht gesehen und angenommen fühlen. Wenn wir einander wirklich sehen wollen, dann geht das nur, wenn wir alle Rollen ablegen.

Es ist möglich,

verinnerlichte Botschaften und Rollen zu erkennen, sie anzuschauen und zu hinterfragen: „Stimmt das für mich? Bin ich das wirklich? Fühlen sich diese Botschaften und Rollen gut an? Oder geht es mir nicht gut damit? Empfinde ich dabei Druck? Oder Angst, oder Trauer? Welche Glaubenssätze haben sich in mir daraus entwickelt? Muss ich wirklich immer einen Orgasmus haben? Muss ich immer einen hoch kriegen? Bin nur etwas wert, wenn ich es ihr besorgen kann? Muss ich ihm das Gefühl geben, dass er es „drauf hat“, damit er mich liebt?“ Im Grunde können wir nahezu alles, was wir an Botschaften über Sexualität verinnerlicht haben, und was in uns zu belastenden Glaubenssätzen führt, über Bord werfen. 97 Prozent dessen, was wir über Sexualität vermittelt bekommen, hat möglicherweise nichts damit zu tun, was die eigene Sexualität ausmacht. Es lohnt sich deshalb, neugierig zu sein, und immer wieder zu hinterfragen: Passt das für mich? Trifft es auf mich wirklich zu? Fühle ich mich gut mit dieser Botschaft?

Ein Beispiel:

Zu den Botschaften über die angeblich unterschiedlichen Erregungskurven von Mann und Frau habe ich vor ein paar Jahren Umfragen gemacht. Ergebnis: 92 % aller Teilnehmenden gaben an, dass ihre Erregungskurve je nach Situation stark variiert. Die angeblichen Unterschiede zwischen Mann und Frau lösten sich dadurch völlig auf. Mit dieser Botschaft verknüpfte Glaubenssätze, die uns belasten und in Rollen zwängen, können wir also getrost loslassen. So werden wir offener dafür, zu schauen und zu fühlen. Wir sind aufmerksamer für uns selbst und unsere Partner.

Was uns dabei hilft…

ist konsequent dem zu folgen, was wir gerade fühlen und uns in Achtsamkeit für uns selbst und unser Gegenüber damit zu zeigen, was gerade ist. Den Kopf auszuschalten – auch eine oft gehörte Botschaft(!) – ist dafür übrigens nicht nötig. Der darf ruhig dabei sein. Und wenn mitten im schönsten Vorspiel ein Gefühl – Trauer, Sorgen, was auch immer – quer schießt, ist das völlig in Ordnung. Das Gefühl wird dann ausgesprochen und kann wieder gehen. Oder es ist gerade wichtig, und dann ist es richtig, dass es Raum bekommt. So machen wir die Erfahrung, dass wir mit dem, wie wir sind, angenommen und gesehen werden.
Meine Partnerin und ich haben uns bewusst Zeiträume organisiert, in denen wir einfach mit dem, was sich gerade zeigt, gemeinsam verbunden sind. „Erfüllende“ Sexualität ergibt sich von ganz alleine, indem wir eine „erfühlende“ Sexualität leben. Eine Sexualität, die entspannt genau dem folgt, wonach wir uns gerade fühlen. Und das ist manchmal wildes geiles sich durch die Decken wühlen. Manchmal haben wir aber auch gerade gar keine Lust auf viel Körperlichkeit: „Wollen wir in ein Café fahren und Milchkaffee trinken?“ Und dann lassen wir uns im Café zufrieden und glücklich in die Lehnen unserer Stühle sinken, schauen uns an, und wissen: Erfühlende Sexualität kann alles sein. Auch ein gemeinsamer Milchkaffee. Und beim nächsten Mal gibt´s wieder durchwühlte Decken. Oder ein Rollenspiel. Je nach dem, was sich gerade zeigt. Zu leben was unsere Bedürfnisse in gerade diesem Moment erfüllt: das ist erfüllend.

Artikel erstmals erschienen in: KGS Berlin, Ausgabe 10/2018
für diesen Blog überarbeitet am 09.08. 2019

2019-08-09T19:08:03+00:000 Kommentare

Ist männliche Lust bereits vermessen?

In diesem Artikel vom 22. Mai 2015 benutze ich zum ersten Mal das Kofferwort huMANNoid.
Später entstand – auch infolge der hier aufgeschriebenen Gedanken, das Projekt und schließlich das Buch
huMANNoid | Männer sind Menschen

Ist männliche Lust bereits vermessen?

Diese Frage ist natürlich etwas provokativ und doppeldeutig. Und das hat einen Grund:
Als der Spiegel gerade mal wieder einen Artikel über neueste Forschungsergebnisse zur Vermessung weiblicher Lust veröffentlichte, ließ die sicher nicht ganz unberechtigte Kritik im Netz nicht lange auf sich warten. Dass viele Stimmen nun mit Nachdruck darauf hinweisen, dass weibliche Sexualität sich nicht vermessen lasse, finde ich dabei durchaus begrüßenswert. Wenn im gleichem Atemzug allerdings so getan wird, als sei männliche Lust bereits vermessen, dann finde ich das schon ein wenig vermessen. Wenn das Feigenblatt unkt, weibliche Lust vermessen zu wollen sei ähnlich kindisch wie das vermessen von Penislängen, wenn Frau Clara Ott von der Welt.de „Sexualforscher“ völlig selbstverständlich mit „Herren“ gleichsetzt, denen man den gut gemeinten Rat geben müsse, endlich ihre Suche nach „Orgasmustricks“ für die Frau aufzugeben, dann fühle ich mich an die E-Mail einer Frau erinnert, die – auf meine Texte in einem Internetforum aufmerksam geworden – mich fragte, wie sie wohl ihren Neandertaler-Mann dazu bringen könne, Bücher zu lesen. Lese ich nun den Shitstorm, den der o.g. Spiegel Artikel auslöste, habe ich zuweilen den Eindruck, dass wir heutzutage über männliche Sexualität tatsächlich ein ähnlich holzschnittartiges Bild haben wie noch vor zwanzig Jahren über Neandertaler.

Wenn wir männliche Sexualität darauf  reduzieren

-und mit „wir“ meine ich durchaus Frauen UND Männer -, dass sie kindisch, schlichter gestrickt und insgesamt latent misstrauenswürdig ist, haben wir uns gehörig vermessen! Wundert es einen da noch, wenn namhafte Sexualtherapeuten wie Ulrich Clement oder Ann-Marlene Henning eine zunehmende Unlust bei Männern registrieren? Vielleicht sind Männer in ihrer Sexualität ja gar nicht simpler gestrickt als Frauen. Auch wenn Ulrich Clement im Interview in der Zeit.de – wie ich vermute in durchaus kalkulierter Provokation – genau diese These einmal mehr in den Raum des öffentlichen Diskurses geworfen hat. Saleem Matthias Riek und Rainer Salm beginnen jedes der 15 Gespräche mit Männern in ihrem lesenswerten aktuellen Buch „Lustvoll Mannsein“ mit der Frage: Bist du ein normaler Mann? Dass keiner dieser Männer diese Frage mit JA beantwortete, stimmt mich nachdenklich. Ich bin jedenfalls, seit ich mich bewusst mit dem Thema männlicher Sexualität beschäftige, noch keinem einzigen Mann begegnet, in dessen Brust kein fühlendes Herz schlägt, das Liebe, Trauer, Freude, Angst, Schmerz, Verunsicherung, Wut und vieles mehr zu Empfinden in der Lage ist! Sie alle sind durch und durch huMANNoid und sind in meinen Augen damit so normal wie die von Riek und Salm interviewten Männer.

Statt männliche Sexualität fortgesetzt mit generalisiertem Misstrauen zu betrachten,

wäre es in meinen Augen an der Zeit, zu untersuchen, ob wir dem trauen wollen, was Medien, Gesellschaft und letztlich wir selbst uns über männliche Sexualität vermitteln.

Ich gebe zu: wenn ich sehe, wie Frauen in den letzten Jahren sich nach und nach eine liebevoll positve und unbeschämte Haltung zu sich selbst, ihrem Körper und ihrer Sexualität entwickeln und dies z.B. mit Schmuck in Form kleiner Vulvinchen feiern, oder im The Nu Project den weiblichen Körper in seiner natürlichen Schönheit würdigen, dann ist es auch für mich als Mann schön, das mitzuerleben. Und dann wünsche ich mir eine ähnliche Entwicklung für uns Männer. Ich wünsche mir eine offene, gerne auch kritische, aber nicht auf Misstrauen eingeengte, liebe- und freudvoll zugewandte männliche Sicht auf männliche Sexualität. Und so lautet meine Antwort auf die eingangs gestellte Frage:
Männliche Lust ist noch lange nicht vermessen. Aber vielleicht sollten wir damit anfangen. Wir hätten viel zu gewinnen.

Eilert Bartels

2019-04-15T12:52:32+00:000 Kommentare

Über den Mythos der unterschiedlichen Erregbarkeit von Mann und Frau

Der folgende Text erschien erstmals im November 2017 als E-Book für den Online Sexualitätskongress

Über den Mythos der unterschiedlichen Erregbarkeit von Mann und Frau  

eine Forschungsreise 

von  Eilert Bartels

Hallo und herzlich willkommen!

Kennst Du das?

Diese Botschaften, die uns immer und überall über unsere Sexualität vermittelt werden?
Die es jedem von uns oft so schwer machen, einfach ins Fühlen zu kommen? Und uns so oft daran hindern, uns unserer eigenen Lust, unseren eigenen Körpern und auch unserem Partner hinzugeben?

Die Botschaft über die unterschiedliche Erregbarkeit von Männern und Frauen ist Eine davon. Und sie macht uns das Leben ganz schön schwer! Dabei ist sie nur Eines:

Ein Mythos. 

Dieser Mythos ist nichts anderes als ein Glaubenssatz, der seit unendlich langer Zeit in unserer Kultur von Generation zu Generation weitergereicht wird.
Ich möchte Dich einladen, Dir einmal folgende Frage zu stellen:

„Wenn ich einmal auf mein bisheriges Leben zurückblicke: Waren meine Erregungskurven immer, in wirklich jeder Situation gleich?“

Wenn Du diese Frage mit „Nein“ beantwortest, gehörst du zu den etwa 92% aller Männer und Frauen, deren Erregungskurve variiert. Je nach Situation.
Wir sind Menschen, keine Maschinen. Und wir reagieren in jeder Situation sexueller Erregung anders. Zum Glück!
Falls Du zu den 8% Prozent derer gehört, deren Erregungskurve immer gleich ist, möchte ich Dich ermutigen, und die übrigen 92% gleich mit:

Freue Dich! Denn wenn Du magst, gibt für Dich noch ganz viel zu entdecken! Wenn Du Lust verspürst, Lebendigkeit und Vielfalt in Dein Leben zu holen, beginne damit, auf Forschungsreise zu gehen und Glaubenssätze zu hinterfragen. Beginne dort, wo es für Dich stimmig ist. Manche Menschen beginnen über Selbsterfahrungs-Räume, ihr eigenes, lebendiges Selbst zu entdecken, andere über Gespräche mit anderen Menschen, manche lesen vielleicht zunächst einmal Texte, so wie Du gerade diesen hier.
Nutze, was Dir einfällt und Dir entgegenkommt. Egal ob Therapien, Gruppenerfahrungen, Tantra, Bücher, oder Dein ganz und gar eigener Weg des Erforschens. Egal. Wichtig ist: Es ist Dein Weg, und Du hast etwas bei Dir, was Dir zuverlässig den Weg weisen kann:

Dein Bauchgefühl!
Fühl immer wieder hin, ob die Botschaften, die Dir vermittelt werden, sich in deinem Körper gut anfühlen. Und wenn sie sich nicht gut anfühlen, forsche nach. Und orientiere dich daran, was sich für Dich gut anfühlt.

Genauso habe ich es auf meine Art und Weise gemacht, als ich danach geforscht habe, was am Mythos der unterschiedlichen Erregbarkeit von Männern und Frauen dran ist.

Und nun wünsche ich Dir viel Spaß beim Lesen meiner Forschungsergebnisse, jede Menge Entdeckerfreude auf dem Weg Deiner selbst bestimmten Sexualität und vielleicht die eine oder andere Anregung zum Selberforschen.

Von Herzen grüßt Dich

Eilert

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Über den Mythos der unterschiedlichen Erregbarkeit von Mann und Frau

Frauen [haben] eine langsamere und flachere Erregungskurve als Männer und [benötigen] daher länger, bis der sexuelle Höhepunkt erreicht ist.“

heißt es zum Beispiel auf Wikipedia im Artikel über die sexuelle Reaktion.

Ja genau, so wird es immer wieder gelehrt.

So werden heute oft die Forschungen von Masters und Johnson zusammengefasst.
Das Problem dabei ist: Masters und Johnson haben das nie gesagt oder geschrieben. Vielmehr betonten sie in der Veröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse: „Die nachstehende Diskussion, die wiederum im Rahmen des Reaktionszyklus erfolgt, sowie die tabellarische Übersicht sollen noch einmal vergleichend die Ähnlichkeiten in der sexuellen Reaktion beim Mann und bei der Frau besonders herausstellen.“

[Masters und Johnson: Die sexuelle Reaktion, dt. Ausgabe Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1970]

Masters und Johnson ging es um Vergleichbarkeit, aber auch darum, Vielfalt menschlicher sexueller Reaktionen sichtbar zu machen.
Darum sind in den so oft zitierten und abgebildeten Erregungskurven von Männern und Frauen verschiedene Linien abgebildet. Sie sollen auf die Vielfalt sexuellen Erlebens hinweisen. Und diese Vielfalt unterscheidet sich nicht nach Geschlechtern.

Viele Menschen haben es traditionell tief verinnerlicht:

das Bild von der nur langsam erregbaren Frau und dem allzu leicht erregbaren Mann. Beinahe scheint es als unumstößliches biologisches Naturgesetz die Rahmenbedingungen zu markieren, innerhalb derer sich Männer und Frauen sexuell begegnen. Es wurde uns ja auch immer wieder vermittelt:

Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass mit nur geringen Ausnahmen die Frauen instinktiv der sexuellen Vereinigung widerstehen.“ hieß es z.B. 1961 noch im Ehehandbuch „Liebe ohne Furcht – eine offene Einführung in das Liebesleben“ über die Sexualität der Frau.

Und bereits 1945 erfuhren z.B. wir von dem Psychoanalytiker Theodore Reik (The Psychologie of Sex Relations) über die Männer: Der rohe Sexualtrieb ist eine biologische Notwendigkeit, die vom Instinkt herkommt. (…) Wenn er sehr erregt ist, braucht er eine augenblickliche Entladung.“

Seit den 1960ern sind zum Glück einige Jahre vergangen. Doch obwohl es auch wissenschaftlich längst nicht mehr haltbar ist, erscheint es vielen Menschen immer noch als naturgegeben, dass Frauen schwerer erregbar sind als Männer. Daran änderten bis heute zahlreiche Veröffentlichungen auch namhafter Sexualforscher, die dies widerlegen, nichts:

Kinsey (1948 und 1953), Masters und Johnson (1966), Shere Hite (1976), Daniel Bergner (2014), und viele Andere haben das Bild von der unterschiedlichen Erregbarkeit von Mann und Frau überzeugend in Frage gestellt.

Dennoch halten die meisten Menschen lieber am Gewohnten fest,

und die Populärwissenschaft bietet dazu den nötigen Halt. Die Errungenschaften der sexuellen Revolution der 1960er und der Frauenbewegung der 1970er und 80er Jahre scheinen fast vergessen: Bücher z.B. über das weibliche und männliche Gehirn verfestigen mit inzwischen kaum mehr haltbaren Thesen die tradierten Rollenbilder vom jagenden Mann und der das Feuer hütenden Frau.
Und so kommt es uns bis heute als völlig normal vor, wenn wir hören:

„Die meisten Frauen brauchen, um zum Höhepunkt zu kommen, ein Vorspiel. Die sexuelle Reaktion der Frau verläuft anders als die des Mannes.“

Solche Aussagen fußen fraglos auf immer wiederkehrenden Beobachtungen.
Und die Konsequenz daraus scheint klar zu sein:

Bereits bevor es überhaupt zu ersten sexuellen Begegnungen kommt, haben wir gelernt, was wir zu erwarten, und wie wir zu sein haben:

„Frauen brauchen eine Extraportion Aufmerksamkeit, der Mann muss sich mehr Zeit nehmen, mehr einbringen, sich der Frau anpassen und sich zurücknehmen.“

So heißt es immer wieder auch in den Textantworten in einer von mehreren anonymen Umfragen, die ich seit November 2014 durchgeführt habe.
Wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung bestätigt sich häufig, was wir erwarten. Und viele Menschen finden innerhalb dieses Rahmens durchaus auch Erfüllung und sexuelle Identifikation. Noch mehr Frauen und Männer allerdings leiden unter der Enge dieser Rollenbilder, fühlen sich unsicher und misstrauen den eigenen sexuellen Impulsen ebenso wie denen ihrer PartnerInnen. Auf dieses Misstrauen kommen wir später noch einmal zu sprechen.

In drei Umfragen

haben mir insgesamt über 700 Teilnehmer Antworten gegeben.
Unter anderem auf die Frage, die Du vielleicht selbst oben auf Seite 3 auch schon beantwortet hast:

„Wenn ich einmal auf mein bisheriges Leben zurückblicke: Waren meine Erregungskurven immer, in wirklich jeder Situation gleich?“

Was sind Deine eigenen Erfahrungen?
Stimmt dieses „Naturgesetz“ der unterschiedlichen Erregbarkeit von Männern und Frauen? Immer? Oder gibt es auch Unterschiede in verschiedenen Situationen: Mit dem eigenen Partner, der Affäre, bei der Selbstbefriedigung, bei verschiedenen Praktiken, usw.?
Dabei hat mich auch interessiert, inwieweit die Befragten diesem Bild von der unterschiedlichen Erregbarkeit allgemein zu-stimmen, und ob dies auch mit ihrem persönlichen Erleben übereinstimmt.

In der dritten und inhaltlich umfangreichsten Umfrage hatte ich deshalb um die Angabe der jeweils kürzesten und längsten erlebten Zeit von der ersten Erregung bis zum Höhepunkt gebeten. Hier die Ergebnisse dieser anonymen Internetumfrage mit insgesamt 290 Teilnehmern (192 Frauen, 90 Männer, sowie 8 Teilnehmern, die sich keinem der beiden biologischen Geschlechtern eindeutig zugehörig fühlen):

Erregungskurven lassen sich nicht nach Geschlechtern zuordnen!

Vielmehr sind sich Männer und Frauen im Durchschnitt überraschend ähnlich!

Die Umfrage ergab:
Während Männer mit 2,5 Stunden durchschnittlich längeren Sex erlebten (längste erlebte Zeit bei den Frauen: im Durchschnitt 1h 40min) , gab es im durchschnittlichen Bereich der „erlebten“ Mindestzeit (Männer: 6min16sek; Frauen: 6,min29sek)  keine wirklichen Unterschiede zwischen Männern (26min40sek) und Frauen (22min42sek).

Wenn es nicht die Geschlechtszugehörigkeit ist, die über schnelle oder langsamere Erregung entscheidet – was ist es dann?
Mehrere Sexualforscher und Sexualtherapeuten (darunter David Schnarch und Ann Marlene Henning) weisen auf das Zusammenwirken der genitalen, bzw. physiologischen Erregungskurve und einer emotionalen Erregungskurve hin.
Auf den Ablauf der genitalen Reflexe nimmt die emotionale Erregung Einfluss, d.h., sie kann die Reflexe verzögern, beschleunigen oder auch unterdrücken.
Aus diesem Grund habe ich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer meiner Umfrage auch darüber befragt, inwieweit verschiedene Gefühlslagen in verschiedenen Situationen den Erregungsverlauf beschleunigen, verzögern, oder gar die Erregung zum Erliegen bringen können.
Und wenn auch Männer traditionell gelernt haben, weniger stark emotional zu reagieren als Frauen: Es gibt letztlich kaum Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Aber es gibt eine deutliche Trennlinie zwischen verschiedenen Gefühlslagen, so, dass sich festhalten lässt:

Unterschiedliche Erregungskurven haben nichts mit Geschlechtern zu tun, sondern mit Gefühlen!

Vertrauen (für 77% der Frauen und 56% der Männer:) und Lust ( für 96,5% der Frauen und 89% der Männer) beschleunigen und intensivieren sexuelle Erregung für Männer, stärker aber noch für Frauen. Geilheit beschleunigt die Erregung für 93,5% der Männer und 89% der Frauen deutlich.

Eindeutig auf der anderen Seite der Trennlinie finden sich folgende Gefühlslagen, die die Erregung verzögern oder sie ganz zum Erliegen bringen:
Angst bremst für 92% der Frauen und 88% der Männer die Erregung klar aus. Bei Unlust verzögert sie sich für 96% der Frauen und 90% der Männer. Mit Misstrauen sinkt die Erregung für 96% der Frauen und 85% der Männer deutlich.

Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer schrieben,
sie fühlten sich angesichts der unterschiedlichen sexuellen Rollenbilder im Bett verunsichert und dem Druck ausgesetzt, bestimmten Erwartungen an männliches oder weibliches Verhalten zu entsprechen oder dieses zu unterdrücken, um mit dem Partner/der Partnerin erfüllende Sexualität erleben zu können. Das bereits erwähnte Misstrauen spielt bei den tradierten Geschlechterklischees eine tragende Rolle. Männer kommen vom Mars, und Frauen von der Venus? Solange wir das glauben, scheint die Verständigung schwierig zu sein.

Mit diesem Text, wie auch mit meinem Buch „Mannliche und weibliche Erregungskurven“ möchte eine Diskussionsgrundlage dazu schaffen, die in ihrer Festlegung ja ohnehin schon brüchig gewordenen Geschlechterrollen noch weiter zu hinterfragen. Ich denke nicht, dass dabei das „erotisierende Spiel von männlich und weiblich“ aufgegeben werden muss. Im Gegenteil!
Mehr Bewusstheit ermöglicht ja überhaupt erst einen spielerischen Umgang mit Rollen.

Und mehr Bewusstheit wäre wichtig!

Denn unabhängig davon, ob die Befragten dem tradierten Bild männlicher und weiblicher Erregbarkeit allgemein zustimmen, oder ob sie es für allgemein unzutreffend halten, gibt es eine klare Tendenz hin zu der Ansicht, dass ein Mann sich in sexuellen Begegnungen „vor allem auf die Wünsche und auf die Geschwindigkeit Frau einstellen sollte“. Das finden Männer ebenso wichtig wie Frauen. Viele Frauen erkennen heute zum Glück auch für sich selbst die Wichtigkeit, ein gutes und vertrauensvolles sexuelles Selbstbild zu entwickeln, sich und ihren Körper gut zu kennen.

Anders sieht es da bisher leider für die Männer aus:
Für die meisten Frauen und Männer (!) scheint es wenig Bedeutung zu haben, dass Männer sich und ihren Körper gut kennen, oder dass sie ein gutes vertrauensvolles Bild ihrer eigenen Sexualität entwickeln. Das ist schade!
Z.B. sagte mir ein älterer Mann, er habe erst mit Ende fünfzig festgestellt, dass seine Brustwarzen erogene Zonen sind. Das mag auch damit zu tun haben, dass Männern in unserer Gesellschaft allgemein wenig Körper- und Gefühlsbewußtsein vermittelt wird, und dass es auch oft misstrauisch beäugt wird, wenn Männer sich mit ihrer eigenen Sexualität beschäftigen.

Das tradierte Misstrauen sitzt tief:
„Wohin soll das führen, wenn Männer nun auch noch dazu ermuntert werden sollen, ungehindert das zu tun, worauf sie Lust haben?“ fragte mich jüngst eine  dreißigjährige Frau. Eine Blitzumfrage, die ich nach der obigen Auswertung zusätzlich und abschließend noch durchgeführt habe, ergab, dass nicht nur Frauen, sondern tatsächlich auch Männer selbst, männlicher Sexualität spürbar weniger Vertrauen entgegenbringen als der Weiblichen!

Ich frage mich aber:

Woher sollen Männer die Fähigkeit nehmen,
sich auf eine/n PartnerIn einzulassen, wenn sie sich und ihren eigenen Körper selbst kaum kennen, und ihrer eigenen, ihrer männlichen Sexualität nicht trauen?
Darum wünsche mir nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer einen Raum der sexuellen Begegnung. Einen Raum, in dem wir eine offene, gerne auch kritische, aber nicht allein auf Misstrauen eingeengte, liebe- und freudvoll zugewandte Sicht auf männliche, ebenso wie auf weibliche Sexualität entwickeln können.

Ich bin mir sicher:

Die Sehnsucht nach solchen Räumen ist riesengroß!

Die Sehnsucht nach Räumen, in denen wir aus diesen Rollen aussteigen können und uns in unserer Ganzheit gesehen fühlen können.

Fast ein Drittel aller Antwortenden stimmen dem Bild der unterschiedlichen Erregbarkeit von Mann und Frau zwar zu, wünschten sich aber, es wäre anders.
Vielen Menschen mag es leichter fallen, sich mit dem Glauben an die unterschiedliche Erregbarkeit der Geschlechter zu arrangieren, als den Gefühlen nachzuspüren, die einer erfüllenden Sexualität möglicherweise im Wege stehen. Dabei könnte sich das lohnen:

Immerhin 45 Prozent halten das Bild unterschiedlicher Erregbarkeit für unzutreffend.

Und in dieser Gruppe scheint sexuelle Identifikation stärker über das Selbst-empfinden zu entstehen, als über irgendwelche Rollen.

Hier findet sich in den Textantworten häufiger eine Betonung von Eigenverantwortung für das sexuelle Erleben, und auch mehr Bewusstheit für das körperliche und emotionale Erleben während sexueller Begegnungen wird spürbar. Aus diesen Antworten klingt eine größere Vielfalt sexuellen Erlebens in Zeit, Intensität und Vorlieben an.

Das Aussteigen aus den Rollen und Klischees,

die irgendwer uns irgendwann einmal zugewiesen hat, macht es uns möglich, uns als das zu erkennen, was wir wirklich sind: Wesen mit der Möglichkeit zu einer wirklich selbst bestimmten Sexualität.
Ein wichtiger Schritt dahin wäre es, schnellere oder langsamere Erregungkurven als das zu erkennen, was sie sind:

Eine Ausdrucksebene von Gefühlen. Und Gefühle sind nicht geschlechtsspezifisch.

Dieser Text enthält Auszüge aus dem Buch

„Männliche und weibliche Erregungskurven – Ein Plädoyer für eine sexuelle Selbstbestimmung jenseits von Scham und Rollenklischee“, Eilert Bartels, Mai 2016

2019-04-15T12:54:41+00:000 Kommentare