Was ist eigentlich eine „männliche Sicht“ auf Sexualität?

Was ist eigentlich eine „männliche Sicht“ auf Sexualität?
Vermeintlich wohl nichts, das gute Erfahrungen möglich macht. So zumindest klang es in den einleitenden Sätzen in der insgesamt sehr gelungenen Sendung „Scobel – Sex als Ressource“ vom 10. Juni 2021
https://www.3sat.de/wissen/scobel/scobel—sex-als-ressource-100.html

Weil ich das so nicht stehen lassen konnte, hatte ich schließlich eine E-Mail an 3Sat und Herrn Scobel geschrieben. Eine Antwort habe ich nie bekommen. Aber ich meine, dass es sich für uns alle lohnt, dieser Frage nachzugehen. Gerade damit wir künftig mehr und mehr gute Erfahrungen mit Sexualitäten aus männlicher Sicht machen können!

Deshalb hier noch einmal meine oben erwähnte E-Mail vom 18. November 2021 zum Nachlesen:

Betreff: Scobel – Sex als Ressource, Sendung vom 10.06.2021

Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrter Herr Scobel,

die Sendung ist zwar schon vor fast einem halben Jahr gelaufen, aber ich finde erst jetzt – nach Fertigstellung meines dritten Buches – Zeit, Sie anzuschreiben, weil mir die ersten zwei einleitenden Sätze der Sendung „Sex als Ressource“ wie Widerhaken stecken geblieben sind.

Vorweg möchte ich betonen, dass ich diese Sendung insgesamt sehr gelungen fand, und sich damit sicher für viele Menschen sicherlich erweiternde Perspektiven auf menschliche Sexualität aufgetan haben. Dafür meinen persönlichen und fachlichen Dank.

Vielleicht gerade deshalb bin ich über die beiden einleitenden Sätze gestolpert, die so schnell vorbei waren, dass sie mir fast entgangen wären, hätten sie nicht Schmerz in mir ausgelöst:

„Die Anpassung an die meist aus männlicher Sicht vorgegebenen Norm wäre in der Tat für die Entwicklung individueller Sexualität ein Rückschritt. Besser ist es, selber für sich gute Normen zu entwickeln. um gute Erfahrungen zu haben.“

Screenshot der Sendung

Screenshot der Sendung „Scobel – Sex als Ressource“

Nun, ich beschäftige mich seit Jahrzehnten mit den Zuschreibungen, Rollenzuweisungen und Botschaften, die uns vorgegeben werden und uns in unserer individuellen Entfaltung beeinflussen.
Dies bedeutet für mich auch, zu hinterfragen, welche Zuschreibungen und Botschaften wir in Bezug auf jedes der Geschlechter haben. Seit 2014 gehe ich diesen Fragen auch beruflich nach. Aus dieser Perspektive heraus – und weil dieser Satz so selbstverständlich beiläufig die Sendung einleitete – sehe ich es als meine berufliche Aufgabe an, einmal genau nachzufragen.

Was genau ist mit „aus männlicher Sicht vorgegeben“ gemeint?

Was genau soll eine „männliche Sicht“ überhaupt sein? Kennen wir diese „männliche Sicht“ überhaupt? Kennen wir sie wirklich? Oder folgen wir hier einmal mehr lediglich einer vorgegebenen Normierung, die uns selbstverständlich glauben lässt, dass „männliche Sicht“ und „Entwicklung individueller Sexualität“ ein Gegensatzpaar seien, und zudem so klar und allgemeingültig, dass es gar nicht lohnt, sie einmal zu hinterfragen?

Ich will mir die beiden Sätze noch einmal auf der Zunge zergehen lassen:
„Die Anpassung an die meist aus männlicher Sicht vorgegebenen Norm wäre in der Tat für die Entwicklung individueller Sexualität ein Rückschritt. Besser ist es, selber für sich gute Normen zu entwickeln. um gute Erfahrungen zu haben.“

Nun, ich bin ein Mann. 

Ergo betrachte ich Sexualität aus einer männlichen Sicht. Laut diesen beiden Sätzen wäre mir als männlichem Menschen mit eben meiner männlichen Sicht auf Sexualität schlicht nicht möglich, überhaupt für mich selber gute Normen zu entwickeln, um gute Erfahrungen zu haben. Müsste ich dementsprechend meine männliche Sicht offenbar erst ablegen?

Wollen wir das wirklich so stehen lassen? Perpetuieren wir damit nicht Botschaften, die Menschen beibringen, dass – wie Volker Ellis Pilgrim in den 1970ern schrieb –

„Der Mann […] sozial und sexuell ein Idiot“ sei? 

Welchen Bärendienst erweisen wir damit Männern, Frauen und überhaupt Menschen, wenn wir an einem Bild der Mangelhaftigkeit männlicher Sexualität festhalten?

Wäre es nicht besser, dieses Bild infrage zu stellen,

damit männliche Menschen nicht mehr auf eine angeblich „aus männlicher Sicht vorgegebenen Norm“ festgenagelt werden, und sie endlich für sich selber gute Normen entwickeln können?

Unter anderem aus solchen Fragen heraus habe ich in meinem vorletzen Buchprojekt 16 Männer in ganzheitlichen Interviews zu ihrem Erleben beim Sex befragt. Gerade habe ich das nächste Buchprojekt abgeschlossen, in dem ich auch 16 Frauen in ganzheitlichen Interviews zu ihrem Erleben beim Sex befragt habe. 

Bei all diesen Interviews war es mir wichtig, den 16 Männern und 16 Frauen nicht in ihrer Rolle „als Mann“, „als Frau“ zu begegnen. Denn es macht einen Unterschied, ob ich einen Menschen frage: „Wie erlebst Du als Mann/als Frau deine Sexualität?“ oder ob ich frage: „Wie erlebst Du Deine Sexualität?“ 

Aus diesen 32 Gesprächen ebenso wie aus Gesprächen mit vielen meiner Klientinnen und Klienten kann ich beim besten Willen nicht schließen, dass die Sicht männlicher Menschen auf Sexualität weniger individuell wäre als die weiblicher Menschen. 

Vielmehr profitieren sowohl Männer als auch Frauen in der Entwicklung ihrer individuellen Sexualität, wenn WIR gesellschaftlich aufhören, Ihnen Normen vorzugeben und Ihnen überhaupt erst einmal Raum eröffnen, für sich selber gute Normen zu entwickeln, um gute Erfahrungen zu machen. 

Deshalb noch einmal meine Frage zu den beiden oben zitierten Sätzen: 

Was genau ist mit „aus männlicher Sicht vorgegeben“ gemeint? Was genau soll eine „männliche Sicht“ überhaupt sein? Kennen wir diese „männliche Sicht“ überhaupt? Kennen wir sie wirklich? Oder folgen wir hier einmal mehr lediglich einer vorgegebenen Normierung, die uns selbstverständlich glauben lässt, dass „männliche Sicht“ und „Entwicklung individueller Sexualität“ ein Gegensatzpaar seien, und zudem so klar und allgemeingültig, dass es gar nicht lohnt, sie einmal zu hinterfragen?

Ich würde den Menschen wünschen, dass wir gesellschaftlich darüber ins Gespräch kommen!

Mit freundlichen Grüßen

Eilert Bartels