Immer mal wieder begegnen mir in den letzten Jahren in den sozialen Medien Bilder mit einem durchgestrichenen
„Protect your daugthers„, und darunter:
„educate, your sons“
Und ich habe auch schon ein paar mal mit eigenen Posts darauf reagiert, in denen ich schrieb:
„Ich finde, wir sollten das Gegenteil tun:
Wir sollten aufhören, unsere Söhne zu erziehen.
Wir sollten aufhören, unseren Söhnen beizubringen, dass „Indianer nicht weinen“.
Wir sollten aufhören, ihnen beizubringen, dass ihre Leistung wichtiger sei als das, was sie fühlen.
Wir sollten aufhören, ihnen beizubringen, dass sie stark sein müssen, um ein richtiger Mann zu sein.
Wir sollten aufhören, ihnen beizubringen, dass sie ein Problem seien, weil sie Jungs/Männer sind.
wir sollten aufhören, ihnen beizubringen, dass sie eine Frau erobern müssen.
Wir sollten aufhören, ihnen beizubringen, dass sie zwar Mädchen/Frauen nicht schlagen dürfen, aber selbst Schläge von Mädchen/Frauen hinzunehmen haben.
Wir sollten aufhören, ohne ihre ausdrückliche und volljährige Einwilligung ihre Genitalien zu verstümmeln und das als Kleinigkeit abzutun.
Wir sollten aufhören, ihnen beizubringen, dass sie weniger Empathie benötigen als unsere Töchter.
Wenn wir aufhören, unsere Söhne derart zu erziehen, ist das der beste Schutz, den unsere Töchter bekommen könnten: Jungen, die Empathie erleben durften.
Weil wir als Kinder Empathie am eigenen Leib, an eigener Seele erleben müssen, um unsere Empathie entfalten zu können und als Erwachsene mittfühlend sein zu können.
Hören wir endlich auf, unsere Söhne zu erziehen! Damit sie die mitfühlenden Wesen bleiben dürfen, als die sie auf die Welt kommen.“
Was ist eigentlich mit „Erziehen“ gemeint?
Nun gibt es immer wieder Menschen, die aber offenbar Sorge haben, dass die Welt, mindestens aber das Abendland unterginge, wenn wir unsere Söhne nicht mehr erziehen. Zumindest aber gibt es offenbar Klärungsbedarf, was mit „erziehen“ gemeint sein soll.
Eigentlich geht aus meinem obigen Text das ja schon relativ klar hervor, was ich damit meine. Nun schrieb mir aber ein Mensch in einem Kommentar:
„Lieber Eilert, es kommt darauf an, wie man „protect“ und „educate“ versteht.
Dieses Bild bezieht sich darauf, dass Töchter durch Verbote geschützt werden sollen. „Sei vor der Dunkelheit zu Hause“, „tu dies nicht und jenes nicht“ – während die Söhne NICHT dazu erzogen werden, Mädchen/Frauen zu respektieren. Deshalb nützen auch all diese Verbote nichts, die als Schutzmaßnahmen betrachtet werden.
Das Bild kann man so interpretieren: Erzieh deinen Sohn so, dass er mit Mädchen/Frauen/Menschen respektvoll und friedlich umgeht.
Oder anders ausgedrückt: In Fällen männlicher Gewalt gegen weibliche Menschen sollte der Anspruch auf Änderung an die Täter gerichtet werden.
(Im umgekehrten Fall natürlich genauso)
Man kann deine Punkte insofern auch positiv formulieren::
Wir sollten unsere Söhne friedlich erziehen.
Wir sollten unseren Söhnen beizubringen, dass Indianer sehr wohl weinen.
Wir sollten ihnen beibringen, dass ihre Leistung nicht wichtiger ist als das, was sie fühlen.
Wir sollten ihnen beibringen, dass sie nicht immer stark sein müssen, um ein richtiger Mann zu sein, sondern auch schwach sein dürfen
Wir sollten ihnen beibringen, dass sie Menschen sind – mit allem Potential, das das beinhaltet.
Wir sollten ihnen beizubringen, dass Konflikte ohne Schläge gelöst werden können und sollten.
Wir sollten aufhören, ohne ihre ausdrückliche und volljährige Einwilligung ihre Genitalien zu verstümmeln und das als Kleinigkeit abzutun.
Wir sollten ihnen beibringen, dass sie genausoviel Empathie benötigen wie unsere Töchter.
Was meinst du zu dieser Interpretation? „
Vielen Dank für die Gelegenheit zur Reflektion. Ich möchte meine Antwort auch für diesen Blogbeitrag festhalten:
Ich bedanke mich für die Zusammenfassung, worauf sich dieses Bild bezieht. Denn ich sehe ein Problem darin. Es enthält nach meiner Wahrnehmung die Vorannahme, dass Männer Täter und Frauen Opfer von Gewalt werden, wenn Jungen nicht erzogen werden.
Vorab aber möchte ich eingehen auf den Satz
„In Fällen männlicher Gewalt gegen weibliche Menschen sollte der Anspruch auf Änderung an die Täter gerichtet werden.“
Ich stimme dem zu, aber genau das passiert mit „protect your daughters – educate your sons“ eben NICHT. Denn damit wird der Anspruch auf Änderung nicht an die Täter, sondern an nachfolgende Generationen, an unschuldige Kinder weitergegeben.
Und das bereitet – ich kann es nicht anders sagen, einen Nährboden für fortgesetzte Gewalt.
Das Problem mit geschlechtsbezogenen Vorannahmen
Diese Vorannahme ist aus meiner Sicht jedoch selbst schon gewaltsam, weil sie Mädchen die Fähigkeit abspricht, sich selbst schützen zu können und Jungen unterstellt, übergriffig zu werden, wenn man ihnen keine Zügel anlegt.
Diese Vorannahme entsteht, soweit ich es erkenne, daraus, dass eben viel Gewalt von Männern an Frauen beobachtet wird. Aus dieser Beobachtung heraus jedoch den Schluss zu ziehen, dass Jungen, wenn sie nicht erzogen würden, natürlicherweise gewalttätig gegen Mädchen und Frauen würden, bleibt mir nicht nur zu sehr an der Oberfläche, sondern das halte ich im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung für einen Gewalt begünstigenden Faktor.
(Vor allem gerät dabei leider aus dem Blick, dass Gewalt dahin fließt, wo ein Machtgefälle besteht. Das Geschlecht allein ist keine hinreichende Kategorie dafür, ob ein Machtgefälle vorliegt. Zugleich besteht definitiv ein Machtgefälle dort, wo Erwachsene Kinder erziehen!)
Deswegen finde ich das Ansinnen, die Botschaft hinter „Protect your daugthers – educate, your sons“ positiv zu formulieren,
zwar gut gemeint, aber immer noch nicht gut gemacht.
Warum wir aufhören sollten, unsere Söhne zu erziehen
Aber lasst uns die Sätze einmal durchgehen:
„Wir sollten unsere Söhne friedlich erziehen.“
Gerald Hüther erinnert in seinen Vorträgen immer wieder daran, dass Gärtner bei Spalierobstbäumen von „erziehen“ sprechen.
Das heißt, da wird unter gewaltsamer Einwirkung Wachstum in eine gewünschte Richtung gebunden, statt dass Bäume sich in ihrem Wachstum natürlich entfalten dürfen.
Das dient dem Gärtner, der dann eine bequeme Ernte hat, aber nicht dem Baum, der wachsen will.
In diesem Sinne gibt es eigentlich keine friedliche Erziehung. Ich glaube aber, wenn es uns gelingt, Jungen und Mädchen, also alle Kinder in ihrem Wachstum gut zu begleiten, dass sie weitaus friedlichere Menschen werden, als wenn wir ihr natürliches Wachstum zu lenken gedenken. Zugleich werden sie eine gesunde Wehrhaftigkeit enfalten können, weil sie von Anfang an lernen können, dass sie in Ordnung sind, wie sie sind.
Anhand der im oben zitierten Kommentar vorgeschlagenen Sätze wird mir deutlich, wie verdreht der Gedanke an „Erziehung zum erwünschten Verhalten hin“ sich für mich anfühlt:
„Wir sollten unseren Söhnen beizubringen, dass Indianer sehr wohl weinen.“
Kinder weinen natürlicherweise von sich aus, wenn sie es brauchen, gesehen zu werden. Das müssen sie nicht beigebracht bekommen. Auch als männliche Kinder müssen sie das nicht beigebracht bekommen. Es reicht, dass sie weinen dürfen.
„Wir sollten ihnen beibringen, dass ihre Leistung nicht wichtiger ist als das, was sie fühlen.“
Fühlen müssen wir ihnen auch nicht beibringen. Der Leistungsgedanke ist doch etwas, was erst durch uns Erwachsene in Kinder hineingebracht wird. Natürlicherweise folgen Kinder ihrer Freude – wenn man sie lässt …
„Wir sollten ihnen beibringen, dass sie nicht immer stark sein müssen, um ein richtiger Mann zu sein, sondern auch schwach sein dürfen.“
Auch hier: es reicht völlig, es ihnen zu erlauben, und das selbst vorzuleben. Dazu braucht es allerdings Väter, Brüder, Freunde die es sich zurückgeholt haben, auch schwach sein zu dürfen. Davon Profitieren übrigens auch unsere Töchter, weil sie erleben dürfen, dass sie nicht schwächer sind als Jungen.
„Wir sollten ihnen beibringen, dass sie Menschen sind – mit allem Potential, das das beinhaltet.“
Für Kinder ist das ihr natürlicher Seinszustand. Wir sollten gerade in dieser Hinsicht im Gegenteil vielmehr von ihnen lernen. Sie sind gerade in diesem Bereich die besten Lehrmeisterinnen und Lehrmeister, die wir uns wünschen könnten!
„Wir sollten ihnen beizubringen, dass Konflikte ohne Schläge gelöst werden können und sollten.“
Am allerbesten leben wir das vor. Und zwar nicht nur in Bezug auf körperliche Schläge, sondern auch in Bezug auf verbale Schläge. Das nur Jungen beizubringen, aber nicht Mädchen, halte ich allerdings für gewaltbegünstigend, weil das nach meinem Empfinden der oben genannten – an sich schon gewaltvollen – Vorannahme folgt.
Und ich habe ein Fragezeichen bei obigem letzten Satz:
Denn Kinder entwickeln, zumindest nach meiner Erfahrung, wenn sie in ihrer Entfaltung friedlich begleitet werden, ein gesundes Gefühl für die eigenen Grenzen und die eigene Wehrhaftigkeit. Das als Kind entwickeln zu können, ist wichtig. Ist dieses Gefühl entwickelt, können Kinder ihre Grenzen viel leichter kommunizieren, ehe es überhaupt zu Gewalt kommt.
Dieses Gefühl für die eigenen Grenzen und die eigene Wherhaftigkeit nicht entwickeln zu können, führt aus meiner Sicht tendenziell dazu, dass (aberzogene und deshalb nicht mehr gesunde) Wehrhaftigkeit viel häufiger in Gewalt umschlägt – gegen sich selbst, oder eben gegen andere. Gerade hier ist mir durch das Frauenbuch klar geworden, wie unfassbar viel Gewalt auch sich Frauen in unserer Kultur selbst antun müssen, einfach dadurch, dass ihnen eine natürliche Wehrhaftigkeit aberzogen wurde.
„Wir sollten aufhören, ohne ihre ausdrückliche und volljährige Einwilligung ihre Genitalien zu verstümmeln und das als Kleinigkeit abzutun.“
Das hast Du ja wortwörtlich von mir übernommen. Ja. Und das gilt für alle Kinder. Mädchen sind zwar diesbezüglich durch die Menschenrechts-Charta geschützt, aber dieser Schutz steht auf sehr dünnem Eis, solange Jungen an dieser Stelle Menschenrechte verwehrt bleiben. Übrigens ist Genitalverstümmelung ein tragischer und massiver Nährboden für die Unterdrückung von Lebendigkeit und Gefühlen.
„Wir sollten ihnen beibringen, dass sie genausoviel Empathie benötigen wie unsere Töchter.“
Müssen wir ihnen das beibringen? Wir müssen es doch einfach nur TUN: allen Kindern mit der gleichen Empathie begegnen.
Ich komme zu dem Fazit, dass ich erstens bei meinen Formulierungen bleiben möchte, und zweitens, sie Ergänzen möchte:
Wir sollten auch aufhören unsere Töchter zu erziehen!
Wir sollten aufhören, unseren Töchtern beizubringen, dass sie sich nicht wehren können.
Wir sollten aufhören, unseren Töchtern beizubringen, dass Lächeln ihre beste Option ist, sich zu schützen.
Wir sollten aufhören, ihnen beizubringen, dass ihre Leistung wichtiger sei als das, was sie fühlen.
Wir sollten aufhören, ihnen beizubringen, dass sie zart sein müssen, um eine richtige Frau zu sein.
Wir sollten aufhören, ihnen beizubringen, dass sie ein Opfer seien, weil sie Mädchen/Frauen sind.
Wir sollten aufhören, ihnen beizubringen, ihre eigene Sexualität geringzuschätzen.
Wir sollten aufhören, ihnen beizubringen, dass sie Schläge von wem auch immer hinzunehmen haben. Das gilt für alle Kinder.
Wir sollten aufhören ihnen beizubringen, dass Jungen Schläge von Mädchen hinzunehmen haben.
Wir sollten aufhören, ohne ihre ausdrückliche und volljährige Einwilligung ihre Genitalien zu verstümmeln und das als Kleinigkeit abzutun.
Wir sollten aufhören, ihnen beizubringen, dass sie mehr Empathie benötigen als unsere Söhne.
Ich danke der Kommentatorin für den Impuls zur Reflektion und zum Weiterdenken.
Dieser Artikel wurde erstmals von mir am 4. Oktober 2022 auf facebook veröffentlicht und am 13. Juni 2023 für diesen Blog redigiert.